Totenverse (German Edition)
Nayir?«
»Gut.« Er musste sich räuspern. »Mir geht’s gut.«
»Du hast abgenommen.«
Erwartungsvolle Stille trat ein.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte sie unsicher, und es klang eher wie eine Frage.
Er kam sich vor wie ein Idiot. »Es tut mir leid –« Er zuckte zusammen. Fast wäre ihm ihr Name herausgerutscht. Irgendwie kam ihm das nicht mehr richtig vor. »Verzeihung. Ich wollte dich um etwas bitten.«
Ihre Augen blickten ihn unverwandt an, aber jetzt lag Neugier darin. Noch immer hatte sie ihren Neqab nicht hochgehoben, und er spürte den widersinnigen, beängstigenden Impuls, die Hand auszustrecken und ihn selbst anzuheben. Er schob beide Hände tief in die Taschen.
»Es geht um einen Freund«, sagte er. »Der gestorben ist.«
Alle Wärme verschwand aus ihren Augen. Er spürte, wie sich seine Brust verengte.
»Verstehe«, sagte sie knapp.
Jetzt war ihr Blick eindeutig zornig. Er wollte irgendetwas sagen, um alles wiedergutzumachen, aber dazu hätte er eine Sprache sprechen müssen, die er nicht beherrschte, und was dabei herauskommen konnte, war nur das unwürdige Stammeln eines Ignoranten. Noch nie hatte er sich so dumm gefühlt.
Schließlich stieß er das Erste hervor, was ihm in den Sinn kam. »Ich mache das nur für meinen Onkel.«
Das war offensichtlich die falsche Erklärung. Es sah aus, als würde sie unter ihrem Umhang zittern, leise vor Wut beben. Sie atmete tief ein und umfasste ihre Handtasche noch fester, und da sah er ihn. Den Ring. An ihrer linken Hand. Er schaute weg, aber er wusste nicht, wo er sonst hinsehen sollte. Der Ring war überall – ein kleiner Diamant, ein kunstvoller Goldreif. Er sah ihn auf dem Bürgersteig, den Häusern, den Autos. Die Stille zwischen ihnen zog sich schmerzlich in die Länge, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als sie zu füllen.
»Du bist verheiratet?«, fragte er, bemüht, beiläufig zu klingen, was ihm aber kläglich misslang. Als sie nicht antwortete, gratulierte er ihr.
Ihr Handy klingelte. Sie fischte es aus ihrer Tasche und klappte es auf. »Entschuldige«, sagte sie und wandte sich ab.
Nayir verlor sich in einer Erinnerung an die Wüste. Das geschah oft, wenn etwas in ihm zerbrach. Dann trug ihn ein Übermaß an Emotion zurück in eine Welt, in der sein Körper nicht diese unbeholfene schwerfällige Kreatur war, die sich hier auf dem Bürgersteig unter einer mörderischen Sonne duckte, sondern eher eine Art Gefäß für die Unermesslichkeit der Welt. Normalerweise überkam ihn diese Empfindung nur in der Wüste, wo er sich durch die Weite um ihn herum unendlich klein fühlte.
Omran, sein Lieblingswüstenführer in der Kindheit, hatte einmal geprahlt, er könne die Wüste zum Singen bringen. Er brachte Nayir zu einer Stelle ein paar Kilometer von ihrem Lager entfernt, wo die Dünen sich wellig und makellos bis zum Horizont erstreckten. Sie erklommen die höchste Düne, die so steil war, dass Omran Nayir mit einem Seil sichern musste, damit er nicht abrutschte und eine Sandlawine auslöste.
Oben angekommen, befanden sie sich auf einem schmalen Kamm, der den oberen Rand einer großartigen Sicheldüne bildete. Sie war das größte Amphitheater, das er je gesehen hatte, und fiel steil in eine glatte Senke ab. Die windgepeitschte Oberfläche war völlig unberührt.
»Ganz gleich, was passiert«, sagte Omran, »du bleibst hier. Du musst nämlich zurücklaufen und Hilfe holen, falls ich nicht wiederkomme. Verstanden?« Nayir nickte, und Omran beugte sich weiter zu ihm herunter. »Du wirst gleich Magie erleben, also überleg dir gut, wem du davon erzählst. Du kennst doch die Schutzsuren?«
»Ja.«
»Gut. Das hier bleibt unser Geheimnis, ja?«
»Ja.«
Omran löste das Seil zwischen ihnen und sprang mit einer einzigen überraschenden Bewegung über den Dünenrand. Einen unglaublichen Augenblick lang sah Nayir ihn in der Luft schweben, dann landete er sechs Meter tiefer. Als seine Beine in den Sand tauchten, ertönte ein übernatürliches WUMM.
Vor Schreck fiel Nayir nach hinten um. Er landete auf dem Gesäß und rutschte langsam die Düne hinunter, doch drehte er sich auf den Bauch und krabbelte zurück auf den Kamm.
Dann hörte er es, laut wie ein kleines Flugzeug, das auf ihn zugeflogen kam, nur dass die Tonhöhe falsch war. Statt eines dröhnenden Motors hörte er das Wehklagen einer Frauenstimme. Es gab keinen Beduinen auf der Welt, der nicht einen gewissen Respekt vor einem Schaitann hatte. Er sah die Dschinn aus Rauch
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