Totenverse (German Edition)
war. »Ich ess schon ohne dich!« Sie öffnete eine Wasserflasche, trank einen kräftigen Schluck, legte die Schawarma-Pita auf den Tisch und ging ins Wohnzimmer.
Die Wohnungstür stand offen.
Sie durchquerte den Raum und blickte hinaus, aber im Flur war es dunkel.
»Du hast die Tür aufgelassen!« Sie schloss die Tür und wollte schon wieder in die Küche gehen, verharrte aber dann und lauschte. Aus dem Bad drang kein Laut. Sie ging nachsehen und stellte fest, dass die Tür zum Bad offen stand und das Licht ausgeschaltet war. Sie knipste es an und riss den Duschvorhang zur Seite, blickte aber nur auf eine Schimmelwiese.
»Eric?« Der enge Raum dämpfte ihre Stimme. Im Schlafzimmer lag der Koffer unangetastet auf dem Bett. Die Nachttischlampe brannte. Eine plötzliche Beklommenheit ließ Miriam frösteln. Sie schaltete das Deckenlicht an. Als sie hinter der Tür nachsah, musste sie beinahe über sich lachen. Wann hatte Eric sich das letzte Mal versteckt, um sie zu überraschen – in ihren Flitterwochen?
»Eric, wo steckst du denn?«
Keine Antwort. Auf dem Weg zurück zur Wohnungstür hörte sie ein Auto in der Gasse hinter dem Haus anfahren, aber es konnte nicht ihres sein, weil der Motor zu laut war. Wahrscheinlich fuhren Abdullah und Sabria gerade los. Außerdem parkte Eric nie in der Gasse. Sie ging in den Männersalon, der nach vorne zur Straße lag. Es drang nur wenig Licht durch die Fensterläden, ansonsten war der Raum dunkel. Sie tastete nach Lichtschaltern, sah schließlich eine Tischlampe und schaltete sie ein. Die Glühbirne war trüb, aber das Licht reichte ihr, um einen Weg an dem Couchtisch vorbei und über die bestickten Kissen und angeschimmelten Teetassen hinweg zu finden. Sie spähte aus dem Fenster und sah, dass der Pick-up noch da war.
Keine Panik , beschwor sie sich und klammerte sich an den Glauben, dass ihre Unruhe im Grunde nur in ihr selbst begründet war, in ihren Ängsten, ihrer Klaustrophobie. Sie hatte schon öfter so reagiert – hypernervös, sogar paranoid, zum Beispiel als Eric mal auf der Schnellstraße eine Autopanne hatte und sie schon dachte, er hätte sie wegen einer anderen verlassen. Als er mit einem Taxi nach Hause kam, lag sie lang ausgestreckt auf dem Sofa und weinte sich die Augen aus. Dr. phil. Miriam Walker – die Powerfrau.
Sie ging wieder in die Küche und zwang sich weiterzuessen. Als sie die ganze Portion Schawarma verputzt hatte, setzte eine gnädige Lethargie ein, die sie zum Sofa führte, wo sie schließlich einschlief. Dann und wann schreckte sie hoch und blickte ängstlich auf die unabgeschlossene Tür, die sich immer noch nicht geöffnet hatte.
7
Jeden Nachmittag gegen Viertel vor fünf starben die Straßen im Stadtzentrum aus. Hitze stieg in Wellen vom öligen Asphalt auf und hing grau und übelriechend am dieselverqualmten Himmel. In einer stillen Seitenstraße, bekannt für die wuchernde Ausbreitung von Kurzwarenläden, dicht an dicht wie Honigwaben, deutete nur das ferne Rauschen einer Toilettenspülung darauf hin, dass sich hinter den Fensterläden und geschlossenen Ladentüren noch irgendwo Leben regte. Die Straße war lang und schmal und verjüngte sich zu einem unrühmlichen Ende, wo ein heruntergekommener Lebensmittelladen mit hellgrünen Fensterläden und ein öffentlicher Brunnen sich den Platz streitig machten. Im Augenblick war vor der gesamten Ladenfront ein großes schwarzes Eisengitter heruntergelassen, dessen Metallstäbe sich heiß und feuchtklebrig anfühlten. Hinter ihnen stand Nayir Sharqi und wartete auf seine Freilassung.
Zwanzig Minuten zuvor war der Ruf zum Asr-Gebet aus den Lautsprechern auf den Dächern geschallt, und wie alle gottesfürchtigen Ladenbesitzer hatte auch dieser hier umgehend sein Gitter heruntergezogen und abgeschlossen. Anders als die meisten war er danach jedoch in die Moschee geeilt und hatte Nayir mit zwei Dosen Favabohnen und einer Büchse Kaffee in den Händen in der Dunkelheit zurückgelassen.
Normalerweise hätte sich Nayir eine derart peinliche Situation erspart, indem er selbst wachsamer auf den Ruf zum Gebet gelauscht hätte, aber heute hatte Asr ihn regelrecht überrumpelt. Und der Ladenbesitzer hatte nur getan, was er tun musste, indem er seinen Laden unverzüglich abschloss, damit ihn die Religionspolizei nicht dabei erwischte, wie er während der Gebetszeiten Geschäfte machte, und damit Nayir sich nicht einfach verdrücken konnte, ohne zu bezahlen.
Nayir hatte die Zeit genutzt, um
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