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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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tun, als wäre sie noch in den Staaten, in einer Welt, die ihr frische Luft, Sonnenschein und eigene Hausschlüssel gewährte. Im Osten funkelten zwei Sterne blau am Horizont. Sie setzte sich, lehnte den Rücken gegen die Wand und sog die Abendluft ein, die nach Jasmin duftete und nach den Weihrauchschwaden, die aus einem der Nachbarfenster drangen. Es war ein tröstlicher Geruch. Sie musste sogleich an Sabria denken, ihre Nachbarin von unten, und wie gern sie bei ihr in dem rauchgeschwängerten Raum saß, Kaffee trank und plauderte.
    Aber während die Minuten verstrichen, nahm die Hitze sie immer mehr in eine erstickende Umklammerung. Sie dachte an die amerikanische Wohnanlage – ein Swimmingpool wäre jetzt paradiesisch.
    Noch sechs Monate .
    Ein dumpfes Geräusch ließ sie herumfahren. Sie sah die Dachtür der Nachbarn aufschwingen, und ein Mädchengesicht spähte hervor.
    »Sabria!«, sagte sie.
    Sabria grinste und kam zu ihr gelaufen, um sie zu umarmen. Miriam wollte ihr entgegengehen, verfing sich an einer Wäscheleine und fluchte lachend. »Ich freu mich so, dich zu sehen!«
    Sabria küsste sie auf die Wangen, hielt sie an den Schultern fest und blickte sie stirnrunzelnd an. »Du warst zu lange weg! Was soll ich bloß machen, wenn ihr endgültig zurückgeht?«
    »Dann musst du einfach mitkommen.«
    »Und meine geliebte Familie zurücklassen? Soll das ein Witz sein?« Sie schmunzelte. Es war eines ihrer Lieblingsthemen, haarklein zu schildern, wie ihre Familie sie in den Wahnsinn trieb. Sabria wohnte mit ihren Eltern, sechs Schwestern und einem streng religiösen älteren Bruder zusammen. Sie war von den Mädchen die Älteste, was bedeutete, dass ein Großteil der Hausarbeit und der Kindererziehung auf ihren Schultern lastete, aber vor wenigen Monaten hatte sie sich freigestrampelt und eine Arbeitsstelle in der Schönheitsboutique ihrer Tante ganz in der Nähe angenommen. Ihre Eltern waren nicht begeistert.
    »Wir wollen gerade los, zur Hochzeit meiner Cousine«, sagte Sabria. »Meine Eltern sind schon weg, aber ich hab meinen Vetter Abdullah gezwungen, noch etwas zu warten, weil ich dich sehen wollte.«
    »Das ist furchtbar lieb von dir.« Miriam merkte zu ihrer eigenen Verblüffung, dass ihr beinahe die Tränen kamen. »Aber du sollst nicht meinetwegen zu spät kommen. Wir sehen uns dann morgen.«
    »Halt, ich wollte dir noch was sagen: Ich heirate nächsten Monat.«
    »Was? Wen denn?«
    »Meinen Vetter Omar.«
    »Glückwunsch.« Miriam schnürte es die Kehle zu. »Ist das der aus Riad?«
    »Ja, der, von dem ich dir erzählt habe.« Sabria schielte nervös Richtung Wäscheleinen.
    »Freust du dich?«, fragte Miriam.
    »Ja, schon, aber …« Sie zuckte die Achseln. »Es geht alles so schnell.«
    Miriam nickte. Sie hörte unten in der Küche etwas klappern. »Eric ist wieder da«, sagte sie. »Kannst du nicht kurz mit runterkommen? Er hat was zu essen geholt, und ich komme um vor Hunger.«
    »Nein, ich muss los. Abdullah fährt sonst ohne mich ab.«
    »Na gut.« Miriam umarmte sie noch einmal. »Komm vorbei, wenn du zurück bist.«
    »Mach ich.« Als Sabria zur Tür trabte, wurde Miriam erneut bewusst, wie jung das Mädchen war. Sie sah aus wie siebzehn und war der Reife nach – wenigstens meistens – eher zwölf, mit seltenen und wunderbaren Augenblicken der Klugheit zwischendurch.
    »Gute Fahrt!«, rief Miriam, und eine gedämpfte Antwort drang aus dem Treppenhaus. Mit einem Lächeln hob sie den leeren Wäscheeimer auf und verließ das Dach. Da sie keine Waschmaschine hatten, wusch Miriam alles mit der Hand, und obwohl sie über die ewige Hausarbeit klagte, war sie insgeheim froh darüber. So hatte sie wenigstens etwas zu tun. Aus der Küche wehte ihr der Geruch von Hummus und Schawarma entgegen. Sie stellte den Eimer in die Spüle und ging schnurstracks zum Tisch, zog die Alufolie von einer Imbisspackung und tunkte einen Finger hinein. Dann riss sie ein Stück von einem großen Pita-Fladen und stopfte es sich in den Mund.
    »Errrk?« Sie schluckte. »Eric, komm essen!«
    Sie hörte keine Antwort. »Eric?« Trockenes Schlucken. Die Mückenlampe prasselte wie eine Salve aus einem Maschinengewehr, und vor Schreck ließ Miriam das Brot auf den Boden fallen. Sie bückte sich, um es aufzuheben, und atmete tief durch. Wahrscheinlich war eine Eidechse hineingeraten; die brutzelten länger als Mücken.
    Sie packte eine Portion Schawarma aus, biss herzhaft hinein und freute sich, dass das Fleisch noch warm

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