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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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selbst zu beten. Er hatte eine Flasche Evian geöffnet und seine Waschungen hinter der Kasse verrichtet, wo ein Teppich lag, der das Wasser auffing. Dann hatte er sich neben einem niedrigen Regal mit Tabakwaren auf den harten Steinboden gekniet und angestrengt versucht, sich auf das Gebet zu konzentrieren, aber wie schon in den letzten drei Tagen gehorchte sein Körper auch heute nur mechanisch, während sein Geist lautlos und geschwind wie eine Fledermaus durch dunkle Gedankenhöhlen huschte.
    Wenn er in den vergangenen acht Monaten eine Einsicht gewonnen hatte, dann die, dass der Versuch, sein Schuldgefühl zu überwinden, ein fruchtloses Unterfangen war. Er hatte sämtliche Strategien ausprobiert, die ihm einfielen, aber ganz gleich, wie oft er Allah um Rat bat, ganz gleich, wie stark er sich an seine Überzeugungen klammerte, es konnte seine brennenden Schuldgefühle nicht lindern.
    Schließ die Tür, senk den Schleier, halt den Mund . Das, was er über Frauen gedacht hatte, gellte ihm jetzt entgegen. Hatte er nicht genau das die letzten Monate über mit Katya gemacht? Sie ausgeschlossen? Eine Sekunde lang kristallisierte sich seine Schuld der letzten acht Monate in dieser glasklaren Erkenntnis. Seine Rechtfertigungen, sie nicht mehr anzurufen, waren bloß faule Ausreden. Seine Begründung letztlich nur eine vordergründige Demonstration von Frömmigkeit, ohne Sinn. Ging es im wahren Islam nicht darum, anderen mit Liebe zu begegnen? Großherzig und vorbehaltlos zu geben, selbst wenn es bedeutete, auch sein Letztes zu geben? Ging es im wahren Islam nicht darum, Achtung zu zeigen? Und wie war das mit seiner Achtung für Katya zu vereinbaren, dass er ihr nicht erklärt hatte, warum er sich nicht mehr bei ihr meldete? Dass er sie mit ihren Spekulationen allein ließ? Nein, er hatte sich nicht anständig verhalten.
    Aber der Gedanke löste sich gleich wieder in Luft auf, denn was würde geschehen, wenn Männer sich die Freiheit herausnahmen, jedes Mal, wenn sie eine Frau trafen, »anderen mit Liebe zu begegnen«? Was würde geschehen, wenn Männer die Gebote der Höflichkeit und Achtung gegenüber der Familie einer Frau außer Acht ließen, weil es im Islam doch angeblich um Nächstenliebe ging und sie daher Liebe zeigen mussten? Das wäre doch absurd!
    Er beendete sein Gebet und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf die Umgebung. Auf das verschlossene Gitter und den harten Steinboden. Er stand auf, legte etwas Geld für die Flasche Evian auf die Theke und ging nach vorne, um gleich hinter dem Gitter zu warten. Auf der Straße rührte sich nichts. Er rüttelte an den Stäben, aber es hörte ihn niemand. Zehn Minuten später kehrte der Ladenbesitzer zurück, öffnete mit selbstgefälliger Miene das Schloss und schob mit lautem Quietschen das Gitter hoch. Nayir ging ohne ein Wort der Erklärung.
    Er brauchte fünf Minuten bis zum Polizeigebäude. Er war schon fast am Haupteingang, als er aus einer Seitentür des Gebäudes Frauen kommen sah. Nach kurzem Zögern trat er in einen Torweg und spähte hinaus. Die Frauen gingen rasch auseinander, stiegen in wartende Autos oder hasteten paarweise die Straße hinunter. Bald war keine mehr zu sehen.
    Er trat gerade aus dem Torweg, als eine letzte Frau das Gebäude verließ. Nayir erstarrte, und sein Magen schlug einen Salto, als er Katya am Gang erkannte. Sie hatte den Neqab vorm Gesicht, und sie war allein.
    Das war der entscheidende Augenblick. Er musste handeln, aber er konnte nicht. War sie es wirklich? Sein Herz raste, und ihm war schwindelig. Sie wandte den Kopf, um die Straße hinunterzuschauen, und als sie ihn sah, erstarrte sie ebenfalls. Ihre Augen waren auf sein Gesicht gerichtet. Er hätte alles dafür gegeben, wenn er hinter ihren Neqab hätte blicken können, nur für eine Sekunde, nur um zu sehen, was sich auf ihrer Miene für eine Reaktion abzeichnete, jetzt, da sie ihn nach so vielen Monaten wiedersah. Ihre Augen verrieten nur leichte Überraschung.
    Er ging wie von selbst auf sie zu und registrierte dabei, dass sie ihre Handtasche fest umklammert hielt. Ansonsten wirkte sie entspannt.
    »Ich fass es nicht«, sagte sie, als er nahe genug war. Sie klang amüsiert, aber er bemerkte dennoch eine gewisse Nervosität. »Ich dachte, dich seh ich nie wieder.«
    Ihre Worte hörten sich kühl an, als hätte sie ihn einfach in eine Schublade gepackt und weggeschlossen. Er suchte nach einer Antwort, aber es wollte ihm keine einfallen.
    »Wie geht’s dir,

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