Totenverse (German Edition)
und heißem Metall über sich wirbeln, sah ihre großen schwarzen Mäuler, die aufklafften, um Kugeln aus Sand und sengendes Feuer und das Kreischen der Dünen auszuspeien. Mit seinen sechs Jahren war Nayir zu klein, um an Physik zu glauben, und er fing an zu weinen.
Auf dem Bauch kroch er bis an den Dünenrand und sah Omran noch immer den Hang hinabrutschen, wie ein Messer, das durch einen großen weichen Kuchen gleitet. Der Wind trieb Nayir eine Wand aus Sand ins Gesicht. Er schmeckte Körner im Mund, schloss instinktiv die Augen und spuckte aus. Dann änderte sich das Geräusch. Das Kreischen verstummte, und er hörte ein Stöhnen. Als sich die Sandwolke verzogen hatte, sah er Omran tief unten in dem Wüstental. Er lag auf den Knien, das Gesicht Nayir zugewandt, aber seine Arme steckten bis zu den Ellbogen im Sand. Er kämpfte. Es sah aus, als würde irgendein Wesen in der Tiefe seine Unterarme auffressen.
»Omran!«, schrie Nayir und sprang auf.
Der Boden gab unter ihm nach, und plötzlich glitt und rutschte und fiel Nayir die Düne hinunter, teils Lawine, teils wild abstürzender Falke. Und sogleich setzte ein schrilles Geräusch ein. Es drang dort, wo seine Beine durch den Sand pflügten, aus den Tiefen der Erde. Die Vibrationen erschütterten ihn, liefen durch Beine und Oberkörper, ließen Hals und Gesicht erbeben. Es waren so viele Dschinn in dem Geräusch, dass er meinte, von ihnen besessen zu sein. Aber diese Dschinn waren eine kürzere, verkümmerte Version der zuvor kreischenden Ifrit. Irgendwann während seines Sturzes begriff er, dass sein Körper und der Sand die Quelle des Geräusches waren. Dass er der Dschinn war und Angst vor sich selbst hatte.
Erst als er den Fuß der Düne erreichte, erfasste sein Gehör vollends den geheimnisvollen Laut, den er erzeugt hatte, und hielt ihn trunken fest, ließ ihn sich immer wieder durch den Geist ziehen, wie ein Kind den Koran wiederholt. Die Laute wurden zu einem Teil von ihm, wie die Zellen seines Körpers. Noch als Erwachsener hörte er im Innern die Klänge mitunter wie ein wehmütiges Echo seines eigenen tastenden Weges durch die Welt.
Damals war es einmal nicht Onkel Samir gewesen, der ihm die Welt erklärte. Es war Omran, notgedrungen, denn Nayir erzählte, als er zu Samirs Zelt zurückkam, begeistert und laut von den Singenden Dünen. Da setzte sich Omran an den Tisch und erklärte, dass die Scherspannung synchrone Schwingungen im Sand ausgelöst hatte, die schrille Töne erzeugten. Und die Sichelform der Düne hatte wie ein Verstärker gewirkt. Er nannte die üblichen Hertz-Frequenzen und machte zur Verdeutlichung noch eine Zeichnung. Alles sehr wissenschaftlich. Samir nickte und freute sich, dass der Mann etwas von Physik verstand. Nayir dagegen war enttäuscht gewesen, er hatte gar nicht mehr hingehört und war in die Nacht hinausgegangen.
Er beobachtete Katya, die in ihr Handy sprach, und wünschte, er könnte ihr begreiflich machen, was er dachte. Dass nicht jeder Sturz ein sinnloser Unfall ist. Dass selbst in unseren unbeholfensten Augenblicken eine erhabene Saite mitschwingt. Und dass selbst die ausführlichste wissenschaftliche Erklärung nicht hinreichend aufzeigt, was geschehen kann, wenn man einen Sandhang hinabrutscht. Sie flüsterte ins Handy, den Blick nach unten auf die Straße gerichtet. Nur einen Moment lang schaute sie zu ihm herüber, und er meinte, einen Anflug von Bedauern zu bemerken. Schließlich beendete sie das Gespräch.
»Verzeihung, Nayir«, sagte sie.
Sie ließ ihn gehen. Oder sie forderte ihn auf zu gehen. Das war ein und dasselbe. Er wusste, er hatte es verdient. Aber er wusste auch, dass er es nicht hinnehmen konnte. Dass er genug von dieser besonderen Form des Leidens hatte. Dass das, was er gerade erlebt hatte, keine lebende Erinnerung war, sondern eine Art Istikhara – eine Antwort Allahs auf die Gebete, die er in den vergangenen acht Monaten so inbrünstig geflüstert hatte. Der Weg, den er gewählt hatte, war nicht der richtige gewesen, aber das würde er jetzt ändern, selbst wenn er dafür zu ihrem Vater gehen und sich zum Narren machen musste, indem er ihm die Wahrheit sagte und damit bewies, dass er ihrer Familie unwürdig war. Spielte das eine Rolle? Schließlich hatte sein Ego ebenso Strafe verdient wie sein Stolz, der ihn davon abgehalten hatte, seine Absichten zu erklären, damals, als Katya bereit gewesen war, sie zu hören.
Seine Gedanken hatten jetzt beinahe etwas Hysterisches an sich. Er
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