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Totenwache

Totenwache

Titel: Totenwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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stellen.
    Der Mann mit der Mütze hatte außer seiner Kopfbedeckung auch eine Brille und Handschuhe getragen. Eine Ausrüstung, die ebenso vermummte wie eine Gesichtsmaske. Eine Personenbeschreibung ohne Haarfarbe, Augenfarbe oder Fingerabdrücke. Maria blickte auf ihre Hände, ihre abgekauten Fingernägel. Nur Ivans Nägel hatten schlimmer ausgesehen, waren kaum zu sehen, beinahe wie bei einem Folteropfer, dem die Nägel ausgerissen worden waren. Handschuhe! Ivan sah wie ein alter Mann mit jungem Gesicht aus. Ein gebrochener Körper, der Maria an alte schwarzweiße Filme erinnerte, in denen Galeerensklaven im Takt der Trommel ruderten. Der Löwenritter? Wie sieht man nach zwanzig Jahren in türkischen Gefängnissen aus? Überlebt man das? Verurteilt wegen Rauschgiftvergehen, hatte Mayonnaise gesagt. Die Verhältnisse in türkischen Gefängnissen waren nicht ganz unbekannt. Außer regelrechten Misshandlungen kamen auch sexuelle Folter mit Elektroschocks oder Schlagstöcken vor, Schläge unter die Fußsohlen, Brandwunden von Zigaretten, Hunger, wenn man keine Lebensmittel von Angehörigen bekam oder bezahlen konnte. Maria hatte darüber gelesen, als sie während der Schulzeit Mitglied in einer Gruppe von Amnesty International gewesen war. Wenn man unter solchen Umständen überlebte, musste man sich für das Leben entschlossen haben. In jedem Fall überleben, stark motiviert von einem Ziel in seinem Leben. Jemanden, den man liebt, wiedersehen? Rosmarie Haag? Oder einen Auftrag erfüllen?
    Maria sah Clarence’ Überreste vor sich und faltete voller Widerwillen ihre Hände. Die weiße Garnierung in dem roten Hackfleisch, der Goldzahn. War Ivan nach zwanzig Jahren zurückgekehrt und hatte seine Braut bei seinem Waffenbruder Clarence gefunden? Vielleicht war er in den Garten geschlichen, um sie von weitem anzusehen. Hatte durch das Schlafzimmerfenster geguckt, deren intimste Umarmung gesehen und das als Liebesakt voller gegenseitiger Lust missverstanden. Aber das erklärte noch nicht die Maskerade in der Goldenen Traube. Warum traf er sich mit Clarence bei helllichtem Tage in aller Öffentlichkeit? Warum ging er ein solches Risiko ein? Clarence’ Körper zu Nerzfutter zu zermahlen und die Tiere die Beweise auffressen zu lassen war durchdacht und kaltblütig. Vielleicht war Odd das gleiche Schicksal bestimmt. Und ihr selbst! Maria unterdrückte einen Schrei mit der Hand. Merkte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte und ihr schwindelig wurde. Sie musste hier raus! Irgendwie musste sie es schaffen. Vielleicht hatte Odd etwas in seinen Taschen, das sie benutzen konnte, um das Schloss oder die Bretter aufzubrechen. Maria kroch auf allen vieren zu dem Toten hin. Der Gestank trieb ihr die Tränen in die Augen. Hände und Knie zitterten. Die Übelkeit nahm wieder zu. Wenn ihr jemand vor einer Woche gesagt hätte, dass sie eine Leiche fleddern würde, wäre ihr das ebenso unwirklich vorgekommen wie ein gemütlicher Spaziergang auf dem Mond. Aber Not kennt kein Gesetz. Es gibt immer Umstände, mit denen man die absurdesten Machenschaften erklären kann. Maria ließ die Hand in Odds Jackentaschen gleiten, erst in die eine, dann in die andere. Sie dachte an Krister und die Kinder, an den herrlichen Sommernachmittag, den sie am Sandåstrand verbracht hatten. Ein Bunker! Mama, da drin ist ein Räuber eingesperrt! Er liegt nur da und schläft, er hört nichts. Wie konnte sie nur so blind und taub gewesen sein? Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Hatte er Odd gesehen? Himmel und Hölle! Maria holte tief Luft und tastete Odds Hosentaschen ab. Der Stoff war feucht. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was das sein konnte.
    »Wir Menschen unterscheiden uns kaum voneinander, wenn man bis an die Wurzeln zurückgeht.« Maria drehte den Kopf zu der dumpfen Stimme um und entdeckte zwei schwarze Augen in der Luke.
    »Ivan, bist du das? Bitte lass mich raus. Ich habe zwei kleine Kinder, die brauchen mich. Ich habe dir nichts getan. Lass mich raus!!«
    »Ich hätte auch ein Kind gehabt, das mich brauchte, wenn diese Hure nicht abgetrieben und sich danach in die Arme von Clarence geworfen hätte.«
    »Sie hatte eine Fehlgeburt, Ivan.«
    »Durchaus nicht. Ich habe ihr Krankenblatt gelesen. Ein weißer Kittel und ein selbstbewusstes Auftreten öffnen alle Türen. Als sie erfuhr, dass ich nicht zurückkommen würde, dass ich auf der türkisch-zypriotischen Seite festgenommen worden war, hat sie abgetrieben. Da stand spontaner Abort.«
    »Spontaner

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