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Totenwache

Totenwache

Titel: Totenwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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rannte los, rannte um ihr Leben, stolperte, stand wieder auf und lief auf tauben Beinen weiter. Langsam wie in tiefem Lehm, Schritt für Schritt auf die Rettung zu. Die Schultern spannten sich gegen den Schuss, der jeden Augenblick kommen konnte. Ivans schwerer Atem, der näher und näher kam, bis sie den Schlag auf den Hinterkopf spürte und alles dunkel wurde.

37
    Langsam kam die Dämmerung mit ihrem trügerischen Gelb. Die Luft in dem Bunker machte das Atmen schwer. Nicht noch eine Nacht in dieser stinkenden Hölle!, dachte Maria. Die Wände wurden dunkler und rückten zusammen. Das Dach senkte sich langsam auf sie und den Toten herab, dessen Hand sie gehalten hatte. Sie erkannte ihn. Die Bilder kamen bruchstückhaft zurück. Der Mann neben ihr war der Makler Odd Molin, fahl und schmutzig gelb war seine Haut und sein Lächeln steif wie bei einem Gebissabdruck. Die Wände pressten sie zu einer Einheit zusammen, Maria und den Toten. Die Angst hämmerte in ihrer Brust. Der kalte Schweiß klebte in ihren Achselhöhlen und unter den Brüsten. Der Hals war rau nach den stundenlangen vergeblichen Hilferufen über den einsamen Strand. Wie lange kann ein Mensch ohne Wasser auskommen? Die Zunge fühlte sich wie ein Schleifklotz im Mund an. Die Lungen drückten wie schwere Klumpen nach oben gegen den Hals. Maria setzte sich auf den Boden. Versuchte ihre Kräfte zu sammeln. Die Gedanken flogen ihr durch den Kopf wie aufgeschreckte Vögel. Vielleicht hatte sie zu große Angst, um sich zu konzentrieren, oder die Unschärfe war die Folge des Schlages auf den Hinterkopf.
    Maria schielte zu dem Toten und merkte, wie eine neue Woge der Übelkeit durch ihren Körper fuhr. Sie war noch niemals mit einem toten Menschen allein gewesen. Im Leichenschauhaus, wo sie hin und wieder dienstlich zu tun hatte, war immer Personal dabei gewesen. Jetzt war sie allein mit dem Tod. »Sieh doch nicht so ängstlich aus, kleines Fräulein. Er liegt ja ganz still da«, hatte der Obduzent gesagt, als sie sich zum ersten Mal einem Verstorbenen genähert hatte, beklommen und ihrer eigenen Reaktion nicht sicher. Die da unten in der Pathologie hatten ihren eigenen Jargon. Beerdigungsunternehmer waren da etwas dezenter. Obwohl die sicher auch ihr eigenes Vokabular hatten, wie alle anderen. Odd Molin lag still an seinem Platz. Würde es so zu Ende gehen? Das Leben. Einsam geht man in den Tod, in eine Einsamkeit, in der niemand einen begleitet. Maria dachte an ihre Kinder, und ihr kamen die Tränen. Würde sie die beiden nie aufwachsen sehen? Oder nie mehr eifrige Arme um ihren Hals fühlen, nie mehr über kurz geschnittenes Jungenhaar streicheln dürfen, kleine warme Füße gegen ihre Haut drücken? Nie mehr aus voller erotischer Lust lieben dürfen? Ganz in zitternden Atemzügen versinken? Vorbehaltlos geliebt und ungestüm begehrt und ersehnt werden. Sie ließ die Gedanken schweifen und erinnerte sich an die kostbaren Stunden in dem feuchten Wiesengras, am Strand in sinnlichem Mondschein, im Moos unter knarrenden Fichten, sogar in Schwiegermutters Holzschuppen in der Zeit der ungeduldigen Verliebtheit, als sie sich ständig berühren mussten. Mitten im Weinen musste sie lächeln. Die Erinnerungen vertrieben das Jetzt Wenn sie ihr Leben noch einmal leben durfte, dann musste es wieder mit Krister sein. Nicht etwa, dass das so einfach war. Aber das Einfache und wenig Konfliktfreie ist nicht immer das, was das Leben lebenswert macht. Krister konnte man nicht so selbstverständlich hinnehmen. Jeder Tag brachte seine eigenen Überraschungen, seine eigenen Konflikte und sein eigenes Glück. Maria schlang die Arme um ihren Körper und weinte einsam vor sich hin. Ihr Mund war so trocken, dass sie kaum schlucken konnte. Gierig streckte sie die Hand durch die Luke und versuchte ein paar Regentropfen aufzufangen. Der Regen hatte aufgehört. Maria leckte ihre Hände ab, die den feuchten Beton berührt hatten. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht, dass sie Wasser sammeln musste solange es regnete, teures Wasser in den Handflächen. Sich satt trinken, in der blauen Badewanne duschen, das wäre ein Geschenk des Himmels. Sich die Zähne putzen dürfen. Maria atmete in die Handfläche. Sie roch schlecht. Die Zähne fühlten sich pelzig an, wenn sie mit der Zunge darüber fuhr. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Sich in die Erinnerung zu flüchten war so viel einfacher, als sich der schrecklichen Gegenwart zu

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