Totenwache
wollte, und er wählte Betäubung.«
»Ist deine Rache jetzt befriedigt?«, flüsterte Maria heiser.
»Nein.«
»Manfred?«
»Manfred Mayonnaise Magnusson.« Ivan lachte sein trockenes krächzendes Lachen. »Mit einem solchen Gehirn geboren zu werden ist Strafe genug. Die anderen konnten ihn nicht mitnehmen, das verstand ich. Sobald wir aus dem Camp kamen, machte er sich in die Hose, die kleinste Spannung und aus ihm wurde eine lebende Latrine. Er wurde schnell nach Hause geschickt. Für die allgemeine Moral war es so am besten.«
»Wie hast du zwanzig Jahre im türkischen Gefängnis überlebt?«
»Das will ein anständiges Mädchen wie du nicht wissen.«
»Ich vertrage mehr, als du glaubst.«
»Ach, sieh mal an. Ich habe meinen Körper für ein Stück Brot verkauft, um Antibiotika zu kaufen, wenn mich das Fieber schüttelte, und um Folter anderer Art zu entgehen. Hinterher habe ich erfahren, dass man von selten der UNO große Anstrengungen unternommen hat, um mich in ein schwedisches Gefängnis verlegen zu lassen, aber vergeblich. Die Soldaten in dem Camp wurden regelmäßig ausgetauscht, und ich wurde schließlich vergessen, für tot erklärt.«
Maria versuchte, ihre Stimme ruhig und sachlich klingen zu lassen. »Wenn du weißt, wie grässlich das ist, eingesperrt zu sein, hungrig und durstig zu sein, warum tust du mir das dann an? Ich bin ebenso unschuldig, wie du es gewesen bist. Was hast du noch zu erledigen, Ivan? Was willst du mit mir tun? Lass mich raus. Ich kann Geld für dich besorgen, alles was du für eine Flucht brauchst.«
Die Augen verschwanden aus der Luke. Leise Schritte im Gras.
»Ivan! Ivan! Komm zurück, Ivan! Ivaaaan!« Die Einsamkeit schlug in der Dunkelheit einen eisernen Ring um sie. In tränenlosem Weinen stützte sie ihren Kopf auf ihre Knie. Es raschelte leicht im Gras, und ein kleiner dreieckiger Kopf erschien in der Luke. Eine Waldmaus. Die schnüffelte in ihrem stinkenden Verlies herum und verschwand dann wieder hinaus in die Nacht. Vielleicht gab es sogar für die kleinen Tiere eine Grenze, an der Gestank unerträglich wurde. Wenn Mäuse zu dem Bunker fanden, gab es keinen Grund, warum sich nicht auch richtige Ratten einfinden sollten. Waren die Nager Aasfresser oder bevorzugten sie lebendes Futter? Sie schob den Gedanken mit der ganzen Kraft ihres Willens von sich weg.
Maria dachte über Ivans hoffnungslose Situation nach. Auch wenn es ihm glückte zu beweisen, dass er unschuldig verurteilt in türkischen Gefängnissen gesessen hatte, kam er nie darum herum, für die Morde, die er in Schweden begangen hatte, bestraft zu werden. Mit den Informationen, die sie hatte, würde Ivan sie niemals lebend herauskommen lassen. Sicher würde er sich eher selbst das Leben nehmen, als noch einmal ins Gefängnis zu gehen. Vielleicht wusste er noch nicht, wie es weitergehen sollte. Dass sie selbst noch lebte, war ein Rätsel. Er hatte den Klebestreifen abgerissen und ihre Fesseln gelockert. Vielleicht war es so, dass er jemanden brauchte, mit dem er sprechen konnte, jemanden, der wusste, welches Unrecht ihm widerfahren war. Das gab ihr ein wenig Hoffnung, eine kleine Überlebenschance.
Rosmarie Haag kuschelte sich in ihren Korbstuhl in dem grünen Pavillon und füllte einen blau lasierten Keramikbecher mit Pflaumenwein. Die Dämmerung senkte sich langsam über den Garten und glitt mit unmerklichen Schritten über das Wasser des Teiches. Die weißen Seerosen leuchteten im Dunkeln wie Sterne. Die erstaunten Johannisbeersträucher, die vom Regen überrascht worden waren und nun bis zu den Wurzeln im Wasser standen, streckten ihre Zweige wie Fühler gegen den Abendhimmel. Hörten auf das Grummeln des Donners.
Sie machte kein Licht. Die Dunkelheit war kein Feind. Der Regen klatschte gegen die spitz zulaufenden Fensterscheiben und glänzte im Schein eines kräftigen Blitzes. Die Petroleumlampe, die an mit Grünspan überzogenen Ketten von der Decke hing, schaukelte langsam hin und her. Rosmarie änderte ihre Stellung in dem knarrenden Korbstuhl. Zog die grüne Baumwolldecke fester um ihre Schultern. Sie hatten sie nach dem Löwenritter gefragt. Ob sie wusste, wo er sich aufhielt. Ob sie seinen Namen gehört hatte. Erst hatte sie vorgehabt, ihnen zu erzählen, er sei tot. Dass er seit beinahe zwanzig Jahren tot war. Clarence hatte in einem Regen von gelbem Herbstlaub an einem frostigen Oktobertag auf der Treppe gestanden. Er hatte ruhig und sehr deutlich zu ihnen gesprochen. Überdeutlich.
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