Totenwache
Wiederholt, dass Ivan … dass er nie mehr … nie mehr. Wie eigenartig ein Mund aussieht, der sich ohne sinnvolle Laute bewegt, wie ein weit entfernter und schlecht untertitelter Film, bei dem die Worte ihre Schärfe und ihren Zusammenhang mit der Zeit verlieren. Clarence hatte sich einen Seitenscheitel gekämmt. Mit dem Scheitel sah er älter aus. Er sah lächerlich aus, wie ein namenloser Komiker, ein Clown. Hatte sie gelacht? Der Goldzahn hüpfte auf und ab, wie die Nadel einer Nähmaschine. Er hörte nicht auf zu sprechen. Das war so merkwürdig. Alles war so merkwürdig. Eine Raupe kroch über die froststeifen Blätter. Eine lebende Raupe. Die Gedanken wurden im Frost steif. Jemand hatte sie behutsam in die Wärme geleitet, bevor die Dunkelheit kam.
Heute hatten sie sie nach dem Löwenritter gefragt. Ihr Kopf war bei dem unerhörten Gedanken beinahe gefühllos geworden. Langsam hatte die Lähmung nachgelassen, nachdem sie nach Hause gekommen und Schutz im Pavillon gesucht hatte, nachdem sie sich in ihren eigenen Stuhl gekuschelt und den Wein seine Wirkung hatte tun lassen. Sie hatte denen nichts gesagt. Aber der Gedanke war auf fruchtbaren Boden gefallen, in eine Erde, in der das Samenkorn bald wachsen würde. Konnte er am Leben sein? Ivan, der Löwenritter. Ivan mit den kräftigen Händen und dem durchdringenden Blick. Ivan, der ihre Lust geweckt und Versprechungen gemacht hatte. Wenn er am Leben war, gab es dann einen Zusammenhang mit Clarence’ Verschwinden? Den Mythen zufolge verehrte Ivan Löwenritter die Frau eines anderen Ritters. Er tötete den Ritter im Kampf und vereinte sich danach mit seiner Geliebten, so wurde es jedenfalls in den Liedern besungen.
Ein Blitz durchzuckte den Himmel, gefolgt von einem heftigen Knall. Was spielte es für eine Rolle, wenn er die anderen alle getötet hatte, sofern er nur selbst am Leben war. Sie konnten zusammen fliehen. Warum hatte er sie nicht geholt? Er hatte versprochen zu kommen und bei der Geburt des Kindes dabei zu sein. Das war sein heiliges Versprechen gewesen. Wenn er frei war, wenn er lebte, dann würde er kommen. Rosmarie fuhr mit den Händen über ihren leeren Schoß. Spürte den Fötus sich bewegen. Griff nach der kleinen Ferse, die am Nabel zu fühlen war. Bevor die Geburt begann, würde er zu ihr kommen. Das hatte er versprochen.
Sie hatte an Manfred Magnusson gedacht. Wenn der nun etwas gehört hatte? Durch Regen und Wind radelte sie hin und wurde von einer triefäugigen Frau hinausgeworfen.
»Du riechst nach Schnaps! Ich lass dich nicht rein, bild dir das ja nicht ein.« Rosmarie bettelte, schrie und drohte. Sie musste wissen, wo Manfred zu finden war. Sie musste es einfach wissen!
»Hier sind schon genug Weiberröcke. Lass dich ordentlich bumsen, wenn du ihn erwischst. Aber ich sag dir bloß, als Liebhaber taugt er nichts, er ist so phantasievoll wie ein Sack Kartoffeln. Aber wenn du wen suchst, mit dem du saufen kannst, dann bist du bei ihm gerade richtig! Übrigens ist er umgezogen.«
Erst viel später begriff Rosmarie, dass sie Manfred gemeint haben musste, dass ihr selbst unterstellt worden war, mit Manfred angebändelt zu haben. Welch verrückter Gedanke.
39
Als Maria aufwachte, war es stockdunkel. Wie lange sie sich schon in dem Bunker befand, konnte sie nicht sagen. Das Geräusch eines herannahenden Autos wurde immer stärker. Sie fühlte sich schwach. Hatte nicht die Kraft, um Hilfe zu rufen. Undeutlich konnte sie zwei Männerstimmen unterscheiden. Die eine dumpf, die andere ein wenig heller.
»Jetzt musst du mir mal mit der Taschenlampe leuchten, Gustav. Ich will einem Onkel helfen, von hier wegzukommen. Er schläft da drin. Maria auch, sei leise und weck sie nicht. Sei ganz leise.«
Maria wurde von dem Licht geblendet. Sie hörte ein Geräusch, als ob etwas über den Boden geschleift wurde. Das konnte Odds Leichnam sein. Es war ihr eigentlich egal. Bevor sie von den Geräuschen gestört worden war, hatte sie sich in Großmutter Vendelas großer warmer Küche befunden. Liebevoll umhegt. In Sicherheit gewiegt. Vendela hatte sie an die Hand genommen und ihr gesagt, sie solle mit hinunter auf die Wiese kommen, hinunter an den Bach und von dem reinen Wasser trinken. Trinken, bis aller Durst gelöscht war. In dem glitzernden Wasser baden. Vendelas Gesicht war so nahe gewesen, dass Maria den Duft von Kaffee und Zimt gespürt hatte. Die Augen waren so voller Liebe. In dieser Güte hatte Maria sich als Kind gespiegelt. Maria hatte ihre
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