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Totenwache

Totenwache

Titel: Totenwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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herum schmolz hinweg. Sie war mitten in der Musik. Sie war ein Teil davon. In einem Schwall von Tönen flossen die Akkorde. Ein unwiderstehlicher Impuls zog sie auf das Licht zu, vereinigte sich mit dem Herzschlag und hob sie hoch wie ein Blatt im Wind. Näher und näher mit einer nie gekannten Intensität.
    »Nein, Maria. Sieh dich nicht um!« Vendelas Gesicht war freundlich, doch besorgt.
    »Wo sind Emil und Linda?« Maria suchte ihre Kinder im Grenzland, fand sie aber nicht. Sie streckte sich gegen das Bewusstsein, voller Sehnsucht nach ihnen.
    Vendela verschwand in dem knisternden weißen Licht, das sie einmal von der Erde weggeführt hatte. Maria blieb in der Musik, dem eintönigen Klang einer Mundharmonika in abgestumpften Händen.

    Die Töne der Mundharmonika hielten sie bei Bewusstsein in dem erschöpften Körper mit seinem Stechen im Magen und dem schmerzenden Kopf. Als die ersten Strahlen der Dämmerung durch die schmalen Schlitze an der Wasserseite in den Bunker fielen, schlug Maria die Augen auf. Sie wollte leben, wollte um jeden Preis überleben. Sie musste ihre Kinder wiedersehen. Sie in den Arm nehmen. Gustav strich Maria übers Haar.
    »Trink, Maria, ich habe den Rest für dich aufgehoben. Ich habe einen Riesenhunger. Aber wir haben nichts zu essen. Nur Hanfsamen. Menschen müssen sich vor Hanfsamen in Acht nehmen, sagt Papa. Das ist eine Art Rauschgift, aber Arrak mag es. Stimmt’s, Arrak?« Erst dachte Maria, sie träumte. Sie fasste das Geräusch wie einen Nachklang der Träume von Vendela auf, aber aus Gustavs Pullover kam ein gurrender Laut.
    »Hast du die Taube bei dir?« Maria brachte nur ein Flüstern zustande.
    »Ja, wir haben zusammen ferngesehen, das ist so harmonisch. Dann rief Ivan, dass ich ihm bei einer Sache helfen sollte. Ich sollte die Taschenlampe halten, während er irgendwas unter der Motorhaube von seinem Audi kontrollierte. Als ich da stand und ihm leuchtete, habe ich ihn gefragt, warum er dich ins Auto getragen hat, gestern früh. Ich habe gefragt, ob du geschlafen hast, und er hat ja gesagt. Seine Stimme hörte sich freundlich an, aber seine Finger zitterten. Dann sagte Ivan, wir wollten eine Probefahrt mit dem Auto machen. Ich wollte nach Hause und Papa um Erlaubnis fragen, aber Ivan meinte, es wäre dumm, ihn zu wecken. ›Er wird nur schlechter Laune‹, sagte Ivan, und das wird er auch, das weiß ich. Hast du den Taubenring noch, den ich dir gegeben habe?« Maria zeigte auf ein dünnes Lederband an ihrem Handgelenk. Dort hing er. Gustav lächelte fröhlich.
    »Das ist aber hübsch geworden.«
    »Wenn du die Taube loslässt, fliegt sie dann nach Hause?«
    »Ja.« Gustav nahm Arrak aus dem Pullover. Sie reckte den Hals und trippelte einige schlaftrunkene Schritte auf das Licht zu. »Er ist auch durstig. Wir müssen ihn nach Hause fliegen lassen.«
    »Warte! Ich muss nachdenken. Kann man mit der Taube einen Brief schicken?«
    »Arrak ist eine Brieftaube! Klar kann man einen Brief mit ihm schicken. Der muss aber ganz klein sein.«
    »Kann man ein kleines Stück von dem Etikett der Colaflasche abreißen?«
    »Aber sicher! Soll ich Brücke der Wichtelmännchen auf den Schnipsel schreiben?«
    »Kannst du das?«
    »Na klar! Papa weiß genau, was ich will, wenn ich schreibe. Womit sollen wir schreiben?«
    »Wir haben keinen Bleistift, nicht mal einen Lippenstift«, antwortete Maria erschöpft.
    »Mit Blut kann man schreiben und mit einer Taubenfeder, aber mir wird dann immer schwindelig. Ich werde bewusstlos, wenn ich Blut sehe, und manchmal werde ich auch bewusstlos, wenn ich gar kein Blut sehe. Das ist mal so, mal so. Aber wenn man muss, dann muss man!« Gustav riss ein Loch in den Schorf einer Wunde an seinem Bein und starrte mit einer Mischung aus Schreck und Behagen auf das Blut. Sorgfältig, mit der Zunge im Mundwinkel, zeichnete er mit der Feder einen Kreis mit zwei gespitzten Ohren. Fummelte den kleinen Zettel unter den Ring der Taube und ließ sie direkt vor der Luke los. Gerade da hörten sie ein Auto kommen und einige schnelle Schritte, als ob jemand mit schweren Sprüngen über die Wiese hastete.
    »Schnell, Gustav, versteck die Taube wieder unter deinem Pullover, und vor allem zeig sie nicht, wenn das Ivan ist, der da kommt. Versprich es mir ganz fest. Vielleicht nimmt er sonst den Zettel, verstehst du? Kannst du Mundharmonika spielen, damit man nicht hört, wenn die Taube gurrt?« Gustav nickte und legte mit aller Kraft los.
    Die schwarzen Augen erschienen in der

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