Totenwache
Absperrungen der Polizei unten bei den Fischerhütten gab es weder Ruhe noch Einsamkeit, und das brauchte sie jetzt wirklich.
Die Kirche von Kronviken lag ganz oben an der Kante der Klippe. Groß und mächtig ragte sie auf, wenn man sie von der Seeseite aus sah. Als Maria an der Landseite über den Kirchhof ging, wirkte sie durchaus nicht so imponierend, aber der Turm sah ziemlich hoch aus. So als ob im großen Stil angefangen worden war und dann das Geld nicht gereicht hatte, um das Bauwerk im gleichen Stil fertig zu stellen. Eine alte Frau mit gestreifter Schürze und einem geblümten Kopftuch harkte den Schotterweg. Ihr hübsches Gesicht war von Wind und Wetter gekennzeichnet und von einem feinmaschigen Netz aus Lachfalten überzogen, die ein symmetrisches Muster bildeten. Mit Kraft und Nachdruck zog sie die große Harke durch den Schotter und beugte sich mühsam herab, um eine Butterblume oder einen Nesselstrunk herauszureißen. Auf dem Kirchhof war es still und friedlich, außer der alten Frau war kein Mensch zu sehen. Die großen Kastanienbäume gaben Schatten und Kühle.
Direkt neben dem Eingang der Kirche befand sich zwischen zwei Familiengräbern ein gefällter Baumstamm aus weißem Marmor. Der Text auf dem Stein war von Moosen und Flechten halb verdeckt. Was Marias Aufmerksamkeit weckte, war eine kleine Pflanze, die einem Nadelbaum glich. Vorsichtig löste sie ein Blatt und rieb es zwischen den Fingern. Rosmarin, Rosmarin zur Erinnerung an die Toten. Die Frau mit der Harke kam näher, und Maria trat schuldbewusst zurück auf den Schotterweg. Vielleicht gab es eine Vorschrift, der zufolge man das Gras nicht betreten durfte. Die Kirchentür stand offen. Der große Schlüssel steckte in dem rostigen eisernen Schloss. Maria trat unter das Gewölbe und wartete, bis die Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten. Die weiß gekalkten Wände waren voller Bilder und Ornamente aus der Geschichte des Christentums. Menschen auf einer Waage gewogen und zu leicht befunden, nachdem eine Traube kleiner Teufel die gegenüberliegende Waagschale heruntergezogen hatte. Ein Finger Gottes hätte in der ersten Waagschale sein müssen, fand Maria. Die Madonna mit dem Kind. Jesu Versuchung in der Wüste, auch hier der gehörnte Feind. Die Apostel und geheimnisvollerweise zwei schwedische Könige, die sich in die heilige Schar gemogelt hatten. Freie Flächen, um seine eigenen Bilder zu projizieren, gab es nicht. Maria hatte irgendwo von dem Schrecken gehört, den man im Mittelalter vor weißen Flächen hatte. Die Wände mit Bildern zu füllen hinderte die bösen Geister am Zutritt. Ein ähnliches Gefühl bekam man, wenn man sich in Gudrun Werns überdekoriertem Wohnzimmer befand. Welchen Zauberspuk sie damit fern halten wollte, konnte man allerdings nur erahnen. Die Kühle war angenehm nach dem anstrengenden Spaziergang den Berg hinauf. Ganz vorn im Chor links vom Altar hing ein Schiff. Maria ging hin und las den Text auf der silbernen Platte unter dem Modell. Oben stand mit verschnörkelten Buchstaben Die See gab und die See nahm . Unter diesem Text waren etwa dreißig Namen von Leuten aufgezählt, die beim Sturm 1931 umgekommen waren. Maria las nacheinander alle Namen. So viel Ehrfurcht muss sein, überlegte sie, dass man sich an sie erinnert: Arnold Jacobsson, Edvin Karlsson, Holger Modig und Ivan Nilsson. Maria fiel Ivan ein, und sie blickte hinauf zu den in Blei gefassten farbigen Vierecken der Kirchenfenster. Vielleicht hatte er als kleiner Junge hier gesessen und sich Gedanken über die Farben gemacht. Das ganze Bild der Madonna mit dem Kind in seine Teile aufgelöst und sich auf die Farben konzentriert, Viereck für Viereck. Vielleicht befanden sich die Glasfenster an dieser Stelle, um zu zeigen, wie Gott die Menschen sieht. Nicht schwarzweiß, mehr Phantasie sollte er schon haben, der Schöpfer, nicht in Böse und Gute, sondern in Farben, in reichen und überraschenden Nuancen, wie die Wechselfälle des Lebens und der Wechsel der Jahreszeiten. Was hatte Ivan gesagt? Dass er seine Wirklichkeit als Kind selbst bestimmen konnte, seine Blickwinkel auswählen konnte, solange er noch Flexibilität und Phantasie besaß. Aber später, als er erwachsen war, waren seine Wahlmöglichkeiten wie Rosinen geschrumpft. Vielleicht ist das für manche Menschen so. Aber dann kommt es doch darauf an, die Rosinen aus dem Kuchen zu picken. Jedenfalls zu wählen, wenn eine Möglichkeit besteht. Was hatte das Leben für einen Sinn, wenn alles vom
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