Totenwache
bis wir ihn fanden. Er war beinahe ans Land getrieben worden. Der Hund hat ihn gefunden. Pfui Deibel! Ich werde nie vergessen, wie er ausgesehen hat. Und dann die verrückte Tilda, die sich während des Krieges hier draußen das Leben genommen hat. Während der Bereitschaftszeit waren hier Soldaten aus Stockholm stationiert. Sie wurde schwanger, die Arme. Wenn der Wind auf das Land zu bläst, hört man, wie sie draußen auf der Klippe ihre komischen Lieder singt. Hohe gebrochene Töne. Sie hat immer gesungen, die verrückte Tilda, wenn sie nicht gerade Zimtstangen oder Ingwer gekaut hat. Eines Abends stand sie nur im Nachthemd da draußen auf der Klippe. Vom Land aus sah es wie ein weißes Segel aus. Dann ist sie gesprungen.«
Als sie bei den Windschutzwänden ankamen, waren Odd und Erika schon da. Erika mit Odds weißer Mütze auf ihren dunklen Locken und Odd mit einem Kranz aus Butterblumen im Haar, auf die Ellbogen gestützt wie ein Dionysos mit dem Champagnerglas in der Hand. Ein Zipfel des Hemdes hing aus dem halb offenen Hosenschlitz. Maria schloss die Augen und dachte an die Rückfahrt. Sie setzten sich auf einen Baumstamm an der Feuerstelle. Die Sonne brannte auf ihren Wangen. Fliegen schwirrten umher. Maria sehnte sich nach festem Boden unter den Füßen, für sich, aber auch für Erika.
»Kennst du diesen Mann?« Maria zog das Foto von Mårten Norman heraus. Dionysos, der sicher eine Brille benötigte, hielt es mit ausgestreckten Armen vor sich.
»Nein, hab keine Ahnung, wer das sein kann. Nimm noch eine Erdbeere, Süße. Im Korb sind auch noch Schnittchen«, antwortete er und klatschte der lachenden Erika kräftig auf den Hintern. Maria kniff die Augen zu und wünschte sich meilenweit weg. Wenn sie nur erst wieder an Land waren, würde sie Erika gehörig ihre Meinung sagen.
»Sieh nochmal hin und nimm dir genügend Zeit. Bist du ganz sicher, dass du den Mann niemals vorher gesehen hast?«
»Ja, und du hast doch verdammt nochmal gehört, was ich eben gesagt habe«, fauchte Odd drohend.
»Ich kenne ihn jedenfalls«, mischte sich Tord helfend ein.
27
Gegen Abend hatte der Wind aufgefrischt. Sie mussten in dem roten Sonnenuntergang nach Hause kreuzen. Odd hatte Erika das Ruder übergeben, um selbst die Segel zu trimmen.
»Die alte Viktoria liegt hoch am Wind. Sie ist das schnellste Boot im Kronviken«, schwadronierte Odd und spuckte dreimal über die Reling. »Hol das Vorsegel dicht, Tord. Du siehst doch, dass es achtern flattert.« Maria war übel. Das Boot schlingerte durch die Wellen, schlug und donnerte. Das Vorschiff tauchte immer tiefer ein. Eine große Woge spülte über das gesamte Vordeck und füllte das Cockpit. Erika jubelte. Maria fühlte sich dem Tode nahe. Sie würden alle ertrinken. Die Übelkeit war kaum noch auszuhalten. Am ganzen Körper klebte der kalte Schweiß, sie stand zitternd auf, um sich über die Reling zu übergeben, und wurde von Tord unsanft heruntergedrückt.
»Wir wenden! Haben Sie den Baum nicht gesehen?!« Maria erbrach sich in das Cockpit und verfehlte den Dackel nur um wenige Zentimeter. Wenn es noch schlimmer wird, nehme ich seine Schwimmweste, überlegte Maria, ehe sie gezwungen wurde, wieder die Seite zu wechseln. Bis ans Land war es entsetzlich weit. Als der Hund auch kotzte, wusste Maria, dass dies das Ende war. Alle würden sie ertrinken, und sie würde ihre Kinder nie wieder sehen.
»Kannst du nicht reffen und mit dem Motor gegensteuern, dann liegen wir etwas ruhiger. Dem Mädchen geht’s schlecht«, rief Tord.
»Kommt überhaupt nicht infrage! Solange es genug Wind gibt, segeln wir!«, entgegnete Odd und holte das Großsegel noch dichter.
Nach der schweren Heimfahrt war Maria völlig ermattet. Zu einem Gespräch mit Erika war es nicht mehr gekommen. Als sie endlich anlegten, empfand sie nur Dankbarkeit dafür, dass sie überhaupt noch am Leben war. Während der Autofahrt hatte sie sich etwas erholt, aber der Boden schaukelte immer noch. Das Leben ist voller Überraschungen und ein Unglück kommt selten allein, wie der Eigentümer der Goldenen Traube zu sagen pflegte.
Am Küchentisch der Familie Wern saß Mayonnaise und jammerte mit seinen ölverschmierten schwarzen Händen vor dem Gesicht. Vor ihm saß Krister, der seine Kaffeetasse unruhig auf der Untertasse herumdrehte. Gudrun Wern, die eine Sensation und schmutzige Wäsche roch, lief in immer enger werdenden Kreisen um sie herum und bediente den ungepflegten Mann am Tisch.
Als Maria durch die
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