Totenwache
Wenn das nicht das Ende der Welt ist, dann weiß ich nicht, wo das sonst sein soll. Außerdem ist es so harmonisch mit dem Meer direkt im Schlafzimmer, da kann man mit dem Rauschen der Wellen einschlafen und mit nassen Strümpfen aufwachen«, kicherte Maria.
Im flimmernden Licht des Fernsehers sah er die Konturen ihres Körpers, wenn sie im Zimmer herumlief. Ihr wallendes Haar, das beinahe kindliche Profil ihres Gesichts, die vollen Brüste und die weichen runden Hüften. Sie flocht das Haar zu einem Zopf. Ängstlich bewegte sie sich von einem Fenster zum anderen. Es schien, als ob sie seine Nähe erahnte. Die katzengleichen runden grauen Augen mit den großen Pupillen starrten in die Dunkelheit hinaus. Sie blickte ihn direkt an, ohne ihn zu sehen. Von ihrem eigenen Licht geblendet. Warum plagte er sich damit, sie anzusehen, sie zu begehren, diese Hure? Warum ließ er die Erinnerungen immer wieder an sich herankommen? Die Erinnerungen, die so wehtaten. Sie war mit ausgestreckten Armen auf ihn zugelaufen gekommen. Das dünne weiße Kleid war wie ein unschuldiges Brautkleid, wie Regenwasser an ihrem Körper herabgeflossen. Die in der Kühle der Nacht steifen Brustwarzen zeichneten sich unter dem Stoff deutlich ab. Sie hatte sich in seine Arme geworfen. Vorbehaltlos, ohne Angst. Sie hatte ihm ihr Gesicht zugewandt und auf seinen Kuss gewartet. In ihren Augen hatte sich seine Sehnsucht gespiegelt, verschwommen grau wie geschmolzenes Blei. Die Erinnerung an die behutsamen Hände, die seinen Körper leidenschaftlich berührten, spürte er immer noch auf seiner Haut. Sie hatte ihm lächelnd, aber sehr ernst einen Zweig Rosmarin gereicht. Er hatte den Duft eingesogen. » Es gibt eine alte ukrainische Volksweisheit, die besagt, wenn eine Frau einem Mann einen Zweig Rosmarin gibt und er ihn annimmt, dann wird er sie ewig lieben. « Vielleicht stimmte das, aber manchmal ist die Liebe dem Hass so verdammt ähnlich. Die Grenze zwischen Sehnsucht und Schmerz ist haarfein. Wenn er ihr damals in jener Stunde den Hals umgedreht hätte, brauchte er sie nicht mit diesem anderen zu teilen. Aber er hatte den Zweig entgegengenommen, wie ein eingebildeter Narr, betäubt vom Verlangen, verzaubert und erblindet. » Komm « , hatte sie gesagt und ihn an die Hand genommen. Die Kerzen im Pavillon hatten im Wind geflackert. Vorsichtig hatte er ihre Blüte geöffnet, hatte ihren Nektar an seiner Haut gespürt, als sich ihm die Pforte des Paradieses öffnete und sie die seine wurde.
Auf Zypern hatte er von einer alten, schwarz gekleideten Frau einen Zweig Rosmarin gekauft. Er wollte den Duft des Krautes spüren und sich erinnern. Der Tag flimmerte vor Hitze. Die Zikaden in den Olivenbäumen überstimmten sie beinahe mit ihrem Gesang. Eine ganze Weile hatte es gedauert, bis er sie überredet hatte. Sie wollte ihm den Zweig nicht verkaufen. » Das ist das Gewächs des Todes « , hatte sie in ihrem gebrochenen Englisch gesagt. Er hatte sich über ihren Aberglauben lustig gemacht. Da hatte sie auf den Boden gespuckt und ihre Hände zum Himmel erhoben, um die Verantwortung von sich zu weisen. » Sei vorsichtig junger Mann « , hatte sie gesagt und ihre knochige Hand auf seinen Arm gelegt. Die Strenge in ihren braunen Augen hatte ihn vor Unbehagen etwas schaudern lassen. Vielleicht war es Zufall, vielleicht ein Omen. Eine Woche später war er im widrigen Schlund der Hölle verschwunden. Wie ein Lebender ohne Leben hatte er im Totenreich den richtigen Augenblick abgewartet. Nur der Hass hatte ihn am Leben gehalten. Der Gedanke an Rache hatte ihm die Kraft gegeben, durchzuhalten.
28
»Hast du gehört, wie es heute Nacht über dem Wasser gekracht hat? Das hörte sich beinahe so an, als wenn das Eis bricht«, sagte Krister und drehte sich halb in seinem Schlafsack, um an den Reißverschluss zu kommen.
»Nein, ich habe gut geschlafen. Nicht mal Mayonnaises Schnarchen habe ich gehört.«
»Der ist nicht mehr hier.« Maria sah sich um. Die Kinder schliefen eingewickelt in ihren Schlafsäcken, aber der Platz, an dem Mayonnaise gelegen hatte, war leer.
»Jonna kam gegen eins und hat ihn geholt. Sie konnte den Wasserhahn in der Küche nicht zukriegen, und das Wasser sprühte durch den ganzen Raum.«
»Und da ist er in Gnaden wieder aufgenommen worden?«
»Ja, bis auf weiteres. Hast du den Knall heute Nacht da draußen wirklich nicht gehört? Es hörte sich wie eine Explosion an. Du musst tatsächlich fest geschlafen haben. Wo bist du übrigens gestern
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