Totenwache
Seehund kam auf die Füße. Die Kinder rannten durch das hohe Gras. Hin und wieder waren sie kaum zu sehen und dann wieder liefen sie im Kreis herum. An Stellen, an denen die Sonne durch die Büsche schien, wuchsen kleine süße Erdbeeren. Emil zog seine auf einen Grashalm, das war bei den reifen Früchten ganz einfach. Dicht neben den Resten eines Schuppens, der zusammengefallen und teilweise verrottet war, fand Maria mehrere kümmerliche Kräuterstauden, die sich mühselig gegen Quecken, Ackerwinde und Gänsefuß durchgesetzt hatten. Zitronenmelisse und Oregano erkannte sie sofort. Etwas unsicher war sie bei einer Pflanze, deren Samen wie Hundekekse aussahen und einen starken Duft verströmten. Vielleicht Kümmel oder Anis? Viele Pflanzen sehen wie Hundekekse aus, manche sind giftig wie Schierling.
»Ist das ein Spukhaus?«, wollte Emil wissen und blinzelte zu Gideons Gebäude.
»In dem Haus hat ein Gärtnermeister gewohnt.«
»Wo ist der jetzt?«
»Er ist tot, aber sein Haus steht noch. Er wollte es nicht verkaufen, deshalb steht es hier für alle Leute.«
»Ach wie lieb. Dann ist er ja ein nettes Gespenst. Ich möchte rein und es mir ansehen.«
Emil galoppierte voraus und wieherte wie ein Pferd.
Die Treppe zum alten Haus war beschädigt und morsch. Die wilden Äste der unbeschnittenen Obstbäume warfen mit ihren Blättern Schatten auf den Eingang. Die Stämme waren mit Moos und Efeu bewachsen. Kleine Früchte, Puppenäpfel, hingen vereinzelt an den vielen Spießen. Direkt am Giebel rankten sich Veilchen dem Licht entgegen, ebenso Pinocchiorosen. Stockrosen standen majestätisch an der Südwand, und überall wuchsen Quecken und Nesseln. Krister ging voraus und fasste an die Haustür. Die hatte kein Schloss mehr, sondern nur einen Haken an der Außenseite. Sicher war das Schloss verrostet und durch den Haken ersetzt worden, damit der Wind die Tür nicht aufriss. Maria lächelte über die neugierigen Gesichter der Kinder. Man konnte richtig sehen, wie die Phantasie sie gepackt hatte. Krister schien das Gleiche zu fühlen, jedenfalls sah man ihm die Lust am Fabulieren an.
»Hier in diesem Haus wohnte einmal ein Seeräuber, der Gideon Wilhelm Eisenfuß hieß.« Linda schnaufte und blickte das Gesicht ihres Vaters wie verhext an. »Sein ganzes Leben lang war er auf den sieben Meeren unterwegs und raubte Gold. Ich weiß, dass er seinen Schatz in diesem Haus versteckt hat.«
»Woher weißt du das?«, flüsterte Emil andächtig.
»Ein Vogel hat es mit zugeflüstert. Ein verzauberter Vogel auf dem Apfelbaum dort.«
»Ich habe nichts gehört«, sagte Linda leise. »Was hat der Vogel gesagt?«
»Dass wir im ganzen Haus suchen sollen. In Versen, ich glaube, es waren Hexameter«, antwortete Krister mit einem Blick zu Maria.
Es roch abgestanden und nach Müll. Unter den Fenstern war die Tapete durchgeweicht und verschimmelt. Der Fußboden stank nach Mäusen, und Maria befürchtete, dass sie jeden Augenblick über eine zugeschnappte Mausefalle stolpern konnten.
»Gideon Eisenfuß hat seinen Schatz vielleicht am Strand eingegraben?«, schlug sie vor.
»Nein«, widersprach Krister, »der müsste hier im Haus zu Finden sein.«
Vor dem Fenster im Wohnzimmer hing eine zerfetzte braune Spitzengardine. Das Fensterbrett war voller Staub und toter Fliegen. Auf dem hellgrünen fleckigen Sofa lag ein zusammengerollter Schlafsack.
»Es sieht so aus, als ob Herr Seeräuber sich eine etwas modernere Ausrüstung angeschafft hat.« Maria zeigte darauf, aber Krister hatte seine Expedition bereits in die Küche geführt.
»Was ist, wenn das Gideongespenst kommt und fragt, was wir in seinem Haus machen?« Emil warf einen schnellen Blick auf die Haustür. »Vielleicht sperrt er uns ein und wir verhungern.«
»Scheint kein großes Risiko zu sein.« Krister öffnete die Tür des Vorratsschranks. »Hier gibt es genügend Konserven.« Eine große Plastikschachtel mit dem Aufdruck »Genossenschaftsschlachterei«, eine alte Säge und eine rostige Axt lagen auf der Spüle, die erstaunlich sauber war im Vergleich zu ihrer Umgebung. Blitzblank!
»Krister, ich finde, wir sollten hier rausgehen. Die Stadtverwaltung kann das Haus ja an jemanden verkauft haben, ohne dass Erika davon wusste. Ich möchte nicht wegen verbotenen Betretens oder Hausfriedensbruchs angezeigt werden.«
»Wenn ich richtig nachdenke, hat der Vogel doch wohl gesagt, dass der Schatz am Strand versteckt ist«, überlegte Krister und fuhr an dem Bleistiftstrich auf
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