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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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und Traversen des stählernen Lindwurms, der sich an den Vorsetzen bis zum Hafentor entlangschlängelte. An der Elbhöhe, dort, wo die zukünftige Ringbahn den Straßenzug kreuzen würde, endeten die pittoresken Bögen und Verstrebungen. Mit zahllosen Stützbalken und Schalbrettern hatte man das Erdreich unter dem Stintfang gesichert, und dort, wo später die Gleise im Hang verschwinden sollten, hatte man eine provisorische Brückenkonstruktion errichtet, über die man mit einer Lorenbahn die Erdmassen zum Wasser transportierte. Hier wurde der Schutt in Schuten und Kähne umgeladen. Die Stelzen der filigranen Konstruktion wackelten bedrohlich unter dem Gewicht der kleinen Dampflokomotive, die etwa zwanzig Lorenwagen über die Brücke schob, und Sören legte unbewusst einen Schritt zu, als er unter dem Gerüst auf die andere Straßenseite wechselte.
    Im Schatten des Pegelturms der neuen Landungsbrücken verharrte er. Jetzt gönnte er sich ein Vanilleeis. Von hier aus wirkten die Bauarbeiten auf der Landseite des Straßenzugs weit weniger bedrohlich. Bald würde die ohnehin bereits überfrachtete Silhouette des Elbhangs um die nächste bauliche Attraktion reicher sein. Schon jetzt kämpften die Türme der Seewarte und das kolossale Ebenbild des steinernen Reichskanzlers um die Gunst des Betrachters. Die zukünftige Haltestelle am Hafentor sollte dieser Monumentalität um nichts nachstehen, der größte Verkehrsknotenpunkt der Stadt konnte auf diese Weise auch sinnbildlich zum Tor der Welt werden. Die neuen Kopfbauten der Landungsbrücken, die hauptsächlich vom Seebäderdienst und den Schiffen der Hamburg-Amerika-Linie frequentiert wurden, bildeten das wasserseitige Pendant dieser städtischen Selbstdarstellung, die alles, nur keine Bescheidenheit ausstrahlte. An Brücke 2 hatte einer der Riesendampfer der Hapag festgemacht, dahinter lagen weitere Schiffe längsseits der Brücken.
    Neben Sören stand eine Schar Kinder und staunte über den mächtigen Rumpf des Schiffes. Ein schmächtiger Bube, höchstens zehn, prahlte den anderen gegenüber mit seinem Wissen. «Schapskopp!», zog er einen lütten Rothaarigen auf. «Kennste denn noch nich mol ’n Woermannsteamer? De kanns doch glieks an die graue Farw kennen!» Er deutete auf die Flagge des größten Schiffes, die sanft vom Wind bewegt wurde. «Dat’s de Hapagflag, de kennt man an den Anker und de Bookstaben.» Die Augen der anderen folgten wie gebannt seinem Finger, mit dem er auf ein schmales Schiff zeigte, das mit Hilfe von zwei Schleppern gerade im Strom gedreht wurde. «Dat’s de, dats ’n Engländer, dat süht man an das blaugestreifte Quadrat in de linke Eck, un da achter kummt ’n dänisches Schipp op, dat künnt ji an dat witte Krüz op’t rode Feld weten.»
    Keiner von den Jungs und Deerns hatte Schuhe an den Füßen, aber nicht nur an der Kleidung, auch an der Sprache konnte man ihre Herkunft erkennen. Bürgerkinder trieben sich um diese Zeit nicht unbeaufsichtigt in der Stadt herum, und außerdem war ihr Wortschatz von Anglizismen, gestelztem Hochdeutsch und französisch anmutendem Vokabular durchzogen, worauf die Eltern Wert legten. Wer in der Stadt reines Platt sprach, kam aus einer Arbeiterfamilie. Es waren Kinder, um die sich niemand kümmerte und die bis zum Einbruch der Dämmerung auf sich allein gestellt waren, da die Wohnstätten ihrer Eltern tagsüber von Schlafgängern besetzt waren. Bis zur Mittagszeit waren sie, in der Regel jedenfalls, der schulischen Aufsicht unterstellt, danach lungerten sie in den Straßen oder auf öffentlichen Plätzen herum, bis ihre Eltern von der Arbeit kamen. Schlimmstenfalls fanden sie sich in Gangs zusammen und begingen törichte Dummheiten, angeführt von halbstarken Waisen oder solchen, die wirklich Not litten. Sören kannte sich aus. Diese hier waren harmlos. Wahrscheinlich warteten sie einfach auf das Einsetzen der Dämmerung und träumten unterdessen den naheliegenden Traum vom Aufbruch in eine andere, glücklichere Welt.
    Auf dem Weg nach St. Pauli versuchte Sören, einen Blick auf die Baustelle des Elbtunnels zu erhaschen, der direkt hinter den Landungsbrücken entstand. Aber ein hoher Bretterzaun versperrte die Sicht. Nachdem er von der Hafenstraße in die Rampenstraße abgebogen war und langsamer werdend gegen die Steigung des Elbhangs ankämpfte, konnte er erkennen, dass hinter dem Bretterverschlag nur ein großes Loch war. Am Ende des Hangs bot sich ihm ein Blick, der zurzeit fast überall in der

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