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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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entkommen konnte. Auch den aufdringlichen Versuchen der Koberer, die vor den Lokalitäten herumstanden und jeden, der seinen Schritt verlangsamte oder nur kurz in ihre Richtung schaute, mit verheißungsvollen Versprechungen über die zu erwartenden Darbietungen lockten, widerstand Sören mit routiniertem Kopfschütteln. Ihm stand nicht der Sinn nach schmuddeligen Tänzerinnen, verwachsenen Gnomen, Frauen mit angeblich drei Brüsten und was sonst noch alles an Kuriositäten angepriesen wurde, wobei die Absicht doch immer dieselbe war: entweder den Gast mit überteuerten Getränken zu schröpfen oder ihn mit Begleitung in eines der privaten Separees auf den oberen Etagen zu locken. Im Idealfall beides.
    Am Wilhelms Platz machten ihm zwei Huren schöne Augen, versprachen alles, was er sich schon immer gewünscht, aber noch nie bekommen hätte, und ließen ihn trotz anfänglicher, milieutypischer Hartnäckigkeit erst dann ziehen, als er ihnen nach kurz geheucheltem Interesse zu verstehen gab, an einer ansteckenden Krankheit zu leiden. Diese Notlüge zog immer. Auf dem restlichen Weg zum Silbersack überlegte Sören, ob es das tatsächlich gab: eine Begierde, die ihm bislang verwehrt geblieben war, etwas, das er sich heimlich wünschte, es sich aber nicht eingestehen wollte und nicht auszusprechen wagte. Es wollte ihm nichts einfallen.
    Zum Silbersack trieb es vorrangig die, die nicht auf ihre Kosten gekommen waren. Hier gab es die billigsten Mädchen und die schlechtesten Getränke. Das Ende vom Ende, soweit Sören das beurteilen konnte. Die Polizeivigilanten hatten das Quartier um den Silbersack aufgegeben. Nicht offiziell, aber es gab einfach nichts mehr, was man nicht schon wusste und hätte ändern können. Tauchte ein Wachtmeister auf, gab man sich friedlich und zugeknöpft, hinter verschlossener Tür brodelte jedoch ein Vulkan. Etliche Razzien und Festnahmen hatten das Treiben nicht beenden können. Eine bittere Erkenntnis, die dazu geführt hatte, dass die Sittenwächter den Silbersack sich selbst überließen. Nur wenn Blut floss, schritt die Polizei ein, was etwa ein- bis zweimal im Monat geschah. In der Regel ging von den Individuen, die hier verkehrten, keine direkte Gefahr aus, weil sie entweder so sehr alkoholisiert waren, dass sie mehr oder weniger apathisch vor sich hin delirierten, oder weil die Schurken und Rohlinge mit ihren abgehalfterten Dirnen unter ihresgleichen keine Streitigkeiten anzettelten, da es so oder so nichts zu holen gab, was man nicht schon hatte. Sören fragte sich, ob Adolf Künkel auch eine dieser verlorenen Seelen war oder was ihn zum Silbersack hinzog. So recht mochte das, was ihm Brunckhorst erzählt hatte, nicht passen, denn Armin der Schränker hatte ganz sicher nicht zur Klientel des Silbersacks gezählt. Hier strandeten keine Ehrenganoven.
    Vor der Spelunke standen und saßen zahlreiche Gestalten, teils lehnten sie an der Hauswand, einige stützten sich gegenseitig, andere versuchten, ihre Körper zum Takt der Klangfetzen zu bewegen, die ein Akkordeonspieler seinem Instrument entlockte. Wie betrunken der Kerl auch sein mochte, die Tasten und Knöpfe des Schifferklaviers fand er trotzdem, und unter den Laternen der Straße huschten die Schatten im Rhythmus seiner Seemannslieder über das Pflaster. Ehe er sich’s versah, hatte sich ihm eine der Frauen an den Hals geworfen und versuchte nun mit kraftvoller Bewegung, seinen Körper in Drehungen zu versetzen. Sie roch nach billigem Parfüm, das höchstens dazu taugte, ihre Körperausdünstungen zu verschleiern. Auf der einen Wange hatte sie eine unschöne Narbe, von der die Schminke abgeblättert war. Sören machte ein, zwei Drehungen mit, aber als er merkte, wie sich ihre Hand zu seiner Geldbörse vorarbeitete, kniff er ihr beherzt in die Rippen, woraufhin sie juchzend aufschrie und von ihm abließ.
    Er kämpfte sich bis zum Eingang der Kaschemme vor, der von einer Menschentraube umlagert wurde. Als es ihm gelungen war, den Schankraum zu betreten, wurde ihm klar, was sie nach draußen trieb. Die Luft im Inneren war so stickig, dass man kaum atmen konnte. Seine Ohren brauchten eine Weile, um sich an die enorme Lautstärke zu gewöhnen. Die Leute verständigten sich schreiend. Auf einigen Bänken saßen in sich Zusammengesackte, die auch der Lärm nicht vom Schlafen abhielt, in der schmalen Gasse, die zum Tresen führte, schubsten sich die Gäste von drinnen nach draußen und in die umgekehrte Richtung. Sören ließ sich von dem

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