Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
Vom Netzwerk:
bei dem man jederzeit damit rechnen musste, dass es ohne Vorwarnung in sich zusammenbrach. Inzwischen war es dunkel, aber das Licht der tranigen Funzeln in den Fenstern reichte aus, um zu erkennen, was einen hier erwartete.
    Als Erstes wurde man mit einem unzumutbaren Schweißgeruch konfrontiert, der sich unmöglich nur in den Gardinen festgesetzt haben konnte. Wahrscheinlich hatte auch das hölzerne Mobiliar die Ausdünstungen bereits angenommen. Eigentlich war der Gestank unerträglich. Rauchschwaden schlugen ihm entgegen. Sören hatte diese Kaschemme noch nie betreten, und er schwor sich, dass es auch das letzte Mal sein würde. Nur an zwei Tischen saßen Männer und tranken Bier. Sören bestellte einen Humpen, probierte aber gar nicht erst. Trotz der alten Klamotten, die er angezogen hatte, musste jeder der hier Anwesenden auf den ersten Blick erkennen, dass dieser Gast nur versehentlich hier hereingeraten sein konnte.
    Sören lehnte sich an den Tresen und versuchte es mit der vertraulichen Masche, auch wenn er bereits ahnte, dass sie nicht zum gewünschten Erfolg führen würde. Nicht hier. «Heiner Petersen meint, man könnte mir hier vielleicht helfen.»
    Der Wirt legte ein fieses Lächeln auf. «So, meint er das?» Gespielt beiläufig wischte er den Tresen mit einem speckigen Lappen trocken. Insgeheim galt seine Aufmerksamkeit dem Taler, den der Gast spielerisch über die Fingerrücken tanzen ließ. Drei Silbermark waren der gängige Kurs für Informationen, die man sonst nirgends bekam.
    «Ich bin auf der Suche nach einem, der sich Künkel nennt. Schon mal gehört?»
    «Was soll denn mit dem sein?» Er starrte weiterhin gebannt auf den Taler.
    «Nichts Besonderes … will nur mit ihm schnacken.»
    «Kann sein, dass ich den Namen schon mal gehört habe.» Der Mann vermied Blickkontakt und spielte den Gelangweilten.
    «Das trifft sich gut.» Sören nahm das Geldstück zwischen die Finger und schnippte es mit dem Daumen hoch, doch bevor sein Gegenüber danach greifen konnte, holte er den Taler mit der anderen Hand aus der Luft. «Und wo findet man ihn?»
    «Mal hier, mal da …»
    «Er hat einem guten Freund von mir einen Tipp gegeben», erklärte Sören. «Und jetzt will er seine Schuld begleichen.»
    Der Wirt zögerte einen Moment. «Manchmal trifft man ihn im Silbersack», meinte er schließlich. Sören schlug ein übler Brodem entgegen. «Aber nicht vor elf.»
    «Hat er auch einen Vornamen?», fragte Sören und ließ den Taler wie einen Kreisel über den Tresen laufen.
    «Adolf. Adolf Künkel», sagte der Wirt und schlug im gleichen Augenblick mit der flachen Hand auf das Geldstück. «Wenn es der ist, den ich meine.»
    Bis elf war es noch weit über eine Stunde. Normalerweise ließ sich die Zeit leicht überbrücken, gerade auf dem Kiez von St. Pauli. Einmal den Spielbudenplatz rauf und runter und dann zurück zur Silbersacktwiete. Es sollte kein Problem sein. Und es war besser, als in irgendeiner Spelunke ausgenommen zu werden. In der Regel hatten die Seeleute und Vergnügungssüchtigen um diese Uhrzeit schon kein Bares mehr in der Tasche.
    An einer Bude gönnte sich Sören zwei heiße Knacker, dann schlenderte er über den Spielbudenplatz und warf einen Blick in die Auslagen der Geschäfte. Nichts, was man brauchte, nichts, was man vermisste. Nippes und Tinnef, Anzüglichkeiten und Dinge, deren Nutzen sich dem bürgerlichen Betrachter selbst mit der größten Phantasie verschloss. St. Pauli war immer noch Paradies und Sündenbabel zugleich – zumindest für Katholiken und Gäste aus der Provinz. Vor dem Hein Köllisch Universum hatte sich eine lange Schlange gebildet. Man gab eine Humoreske über den bislang unsichtbaren Kometen. «Spezialitätenvorstellung» hieß es auf den Plakaten: «Der Halley’sche Komet. Eine Parodie».
    Sören drängelte sich an der Schlange vorbei, die sich fast bis zur Straße gebildet hatte. Ein junger Chinese sprach ihn an, ob er etwas Entspannung haben wolle. Sören lehnte dankend ab. Ein Besuch in einer der versteckten Opiumhöhlen in den Kellern nördlich der Reeperbahn war das Letzte, was er sich angetan hätte. Die ausgemergelten Körper der nach Laudanum Süchtigen, die man tagsüber nur selten zu Gesicht bekam, waren mit das Abschreckendste, was der Kiez zu bieten hatte. Dennoch gab es immer wieder Menschen, die der Versuchung erlagen. Dabei war allgemein bekannt, dass sich bei Laudanum die Sucht bereits nach kurzer Zeit einstellte. Ein Teufelskreis, dem man kaum

Weitere Kostenlose Bücher