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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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Stadt gleich war. Allerdings in die andere Richtung: Abriss und Niederlegung. Für den Neubau des an dieser Stelle geplanten Tropenkrankenhauses lag das Quartier im Umbruch. Bis zum Oktober des Jahres musste alles weichen, was bisher an der Kante des Elbhangs gelegen hatte. Darunter auch die Elbhalle, der einzige wirkliche Tanzsalon von ganz St. Pauli, gelegen Bei der Erholung zwischen Navigationsschule und dem Gelände von Zirkus Busch. Die Gebäude an diesem Straßenzug standen zwar noch, aber die Kündigungen waren ausgesprochen, und der Abriss schien besiegelt. Die Hälfte der Häuser stand bereits leer, die Eingänge waren mit Holzplatten vernagelt, auf denen die verbliebenen Bewohner des Quartiers ihrem Unmut über die Räumungen mit gepinselten Parolen Luft gemacht hatten.
    Auch Petersens Eck war von der nahenden Niederlegung betroffen, aber noch schien der Betrieb nicht zu ruhen. Vor der Pinte lungerten ein paar zwielichtige Gestalten herum. Sören ließ sich nicht beeindrucken und ging die marode Treppe zum Schankraum hinab. Stickige Luft schlug ihm entgegen, als er die Pinte betrat. Prompt brachen die Gespräche an den Tischen und Bänken ab, und man musterte den Fremden aufmerksam. Sören nickte in die Runde und hielt zielstrebig auf den Tresen zu. Die Kleidung hatte er seinem Vorhaben angepasst, und der eine oder andere schien sich an sein Gesicht zu erinnern. Alle paar Monate kam es vor, dass Sören hier zu Gast war: Immer dann, wenn er Kontakt zum Milieu aufnehmen wollte, um etwas in Erfahrung zu bringen. Schon im nächsten Moment schenkte man ihm keine Aufmerksamkeit mehr, und die Gespräche wurden wieder aufgenommen. Sören bestellte ein Bier. Es war schal und bitter. Wie er heraushören konnte, ging es an den Tischen vor allem um die neuerliche Erhöhung der Fährpreise der Hafendampfschifffahrts-Gesellschaft für die Hafenfähren. Nichts Außergewöhnliches also, ein gutes Drittel der Hamburger Arbeiterschaft war davon betroffen, lagen deren Arbeitsplätze doch auf der anderen Elbseite. Der Elbtunnel würde so einige Änderungen mit sich bringen …
    Heiner Petersen nickte ihm zu, und seine Kopfbewegung zielte auf einen kleinen Raum hinter dem Tresen. Sören folgte der Aufforderung unauffällig. Niemand im Schankraum brauchte zu wissen, worum es ging, leicht hätte sonst der Eindruck entstehen können, dass Petersen sich als Spitzel verdingte. Im Grunde genommen war es auch so, aber der Wirt wusste, dass seine Informationen bei Sören in die richtigen Hände kamen – und er war es ihm schuldig. Ohne Sörens Hilfe hätte er nicht nur seine Konzession verloren, vermutlich säße er sogar im Gefängnis. Petersen war vor zwei Jahren einem Panscher auf den Leim gegangen und hatte dessen gestreckte Schnäpse verhökert. An sich eine in diesem Milieu weitverbreitete Bagatelle, aber das Gesöff war nicht nur verdünnt gewesen, sondern mit stark verunreinigtem Alkohol vermixt worden. Die Angelegenheit flog gleich am ersten Tag auf, weil alle Gäste mit einer massiven Alkoholintoxikation im Krankenhaus gelandet waren.
    «Kennst du jemanden mit Namen Künkel?», fragte Sören, nachdem Petersen die Tür zum Schankraum geschlossen hatte.
    Petersen überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf. «Noch nie gehört. Was is’n mit dem?»
    «Soll jemanden angestiftet haben.»
    «Mag schon sein», erwiderte Heiner Petersen kurz angebunden. «Verkehrt hier aber nicht. Zumindest nicht unter dem Namen.»
    «Hast du einen Tipp, wo man was erfahren könnte?»
    «Frag mal bei Hertha & Claus.»
    Sören orderte noch ein Bier, auch wenn es ihm schwerfiel. Nach dem ersten Schluck machte er eine ungeschickte Handbewegung und stieß den Humpen um. Das Nachfüllen verbot er sich mit einer ablehnenden Geste. Er musste einen klaren Kopf behalten. Außerdem schmeckte die Brühe abscheulich.
    Hertha & Claus lag am Pinnasberg. Eine heruntergekommene Kaschemme, in die sich nur verirrte, wer bereits ordentlich angeschickert war. Der Name der Lokalität täuschte. Hertha gab es nicht mehr, einen Claus ebenso wenig. Den Gerüchten nach hatte Claus Hertha eines Nachts umgebracht und war danach stiften gegangen. Genaues wusste niemand, auch nicht, wie lange die Kneipe schon so hieß. Vielleicht stammte ihr Ursprung noch aus der Franzosenzeit. Der bauliche Zustand ließ so etwas jedenfalls vermuten. Wenn man Petersens Eck als muffig und staubig bezeichnen konnte, dann war Hertha & Claus eine pekige Bruchbude. Ein schiefes Gemäuer,

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