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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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ist im Eckhaus Alsterkamp und Brandsende gelegen und wirbt mit schmerzlosem Zahnziehen sowie der Herstellung von Präzisions-Reformzähnen und Adhäsions-Gebissen aus eigener Fertigung. Weißt du, wer mir davon erzählt hat? Davids Freundin.»
    «Liane Kronau?»
    «Ja. Sie war übrigens gestern Abend in Lokstedt auch dabei.»
    «Ich hätte mitkommen sollen, statt mich auf dem Kiez verprügeln zu lassen …»
    «Gefällt sie dir?»
    «Red keinen Unsinn.» Er zog Tilda an sich. An Küssen war nicht zu denken. Sören packte sie unter den Achseln und schob seinen Kopf zwischen ihre Brüste, was sie mit einem Kichern quittierte. Tilda machte keine Anstalten, sich aus der Umklammerung zu befreien. Auch als Sören seine Hände unter ihre Bluse schob und sich seine Finger langsam zu ihren Brüsten vorarbeiteten, erhob sie keinen Einspruch. Mit ausgestreckten Armen, in der einen Hand die Tupfer, in der anderen das Tinkturfläschchen, schmiegte sie sich an ihn. Erst als die Wohnzimmertür aufgerissen wurde, schreckte sie hoch.
    «Ich auch, ich auch kuscheln!» Robert kam ihnen entgegengerannt. Sören hatte Schwierigkeiten, seine Erregung zu verbergen, als Mathilda sich von seinem Schoß erhob. Aber Robert hatte nur Augen für das Gesicht seines Vaters. Fragend schaute er ihn an: «Hast du Kloppe bekommen?»
    Mathilda und Sören mussten angesichts der treffenden Beobachtungsgabe ihres Kindes beide anfangen zu lachen. «Das kommt auch in meinem Alter noch vor», sagte Sören und streichelte seinem Sohn über den Kopf. «Es sieht schlimmer aus, als es ist. Morgen, spätestens übermorgen bin ich wieder der Alte – sagt deine Mutter.»
    «Du bist gar nicht alt», widersprach Robert in kindlicher Unbedarftheit und nestelte an seinem Nachthemd.
    «Sag das mal deiner Mutter», entgegnete Sören und warf Tilda einen provokanten Blick zu. «Noch gar nicht im Bett?», wandte er sich wieder Robert zu.
    In dem Moment kam Agnes ins Zimmer, die eine entschuldigende Geste machte. Natürlich hatte sie die Situation sofort durchschaut. Mathilda war immer noch damit beschäftigt, ihre Bluse in Ordnung zu bringen. Eigentlich war es ja auch weder Zeit noch Ort für Intimitäten. Agnes blickte Sören verlegen an, aber der nickte ihr mit einem freundlichen Lächeln zu.
    «Vorsichtig!», bat Sören, als ihm Robert einen Gutenachtkuss geben wollte. Für einen kurzen Augenblick genoss er den Duft unschuldiger Kinderhaut. Dann gab er seinem Sohn einen freundschaftlichen Klaps auf den Po. «Jetzt aber marsch in die Koje.»
    «Wollen wir wirklich, dass er hier aufwächst?», fragte Tilda, nachdem Agnes die Tür zur Stube geschlossen hatte.
    Sören wusste mit ihrer Frage nichts anzufangen. «Was meinst du?»
    «Inmitten von diesem Lärm, dieser ganzen hektischen Betriebsamkeit. Ich empfinde die Stadt zunehmend als riesigen Moloch. In nur wenigen Jahren hat sich alles um uns herum so verändert. Ich habe das Gefühl, dass wir zuwachsen und für uns selbst kein Platz mehr bleibt.»
    «Die Baustellen nehmen überhand, das stimmt. Aber das ist sicher nur eine Frage der Zeit, bis sich die Stadt wieder beruhigt.»
    «Glaubst du wirklich? Ich denke nicht nur an die Baustellen, allein der Verkehr … es wird immer mehr. Wenn ich daran denke, wie still es hier war, als ich zu dir gezogen bin. Wir kamen uns fast vor wie in einem Vorort. Und nun rattern mehrere Straßenbahnlinien an uns vorbei zu den wirklichen Vororten der Stadt, es gibt hier kaum noch unbebaute Flächen, die Wiesen und Parks sind verschwunden, und es reihen sich Häuser in fast unendlichen Fluchten aneinander. Dazu der Gestank. Ich bilde mir ein, dass die Luft staubig und schmutzig geworden ist.»
    Sören musste an das denken, was er tagtäglich erlebte, wenn er sich auf den Weg zur Kanzlei machte. Die ganze Stadt schien tatsächlich im Chaos zu versinken, die neuen Bauten wurden immer mächtiger und höher, die Straßen mutierten zu Schluchten, in denen der Verkehr stockte. Es war ein schleichender Prozess gewesen, bis auf wenige Ausnahmen wie jetzt der Bau der Mönckebergstraße, der einem das gewaltige Ausmaß der Veränderungen auf einen Blick vor Augen führte. Natürlich wuchsen die Stadt und mit der Vielzahl ihrer Bewohner auch die Erfordernisse, die tagtägliche Bewegung der Menschenmassen in kontrollierte Bahnen zu lenken. Aber waren sie hier tatsächlich von der Entwicklung überrollt worden? War es so, dass ihr ehemaliges Refugium der Ruhe und Abgeschiedenheit inzwischen von der

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