Totenwall
dachte er über ihre Mobilität nach. Sollten sie wirklich ihren derzeitigen Standort aufgeben und aus der Stadt fortziehen, dann brauchte auch Mathilda einen Wagen. Ihre Anstellung im Stadtorchester durfte sie nicht aufgeben, auch wenn sie so etwas in den Raum gestellt hatte – notfalls. Er wusste, wie viel ihr an ihrer Arbeit lag. Und wenn es der Norden der Stadt werden würde? Bis die Vororte an die geplante Ringbahn angebunden wären, würden noch Jahre vergehen, aber die Haltestellen standen schon fest. Er hatte es durchgerechnet. Von den Walddörfern war man mit öffentlichen Verkehrsmitteln immer noch mehr als zwei Stunden bis ins Zentrum der Stadt unterwegs. Vorausgesetzt, man erwischte einen Anschluss beim Umsteigen.
Vielleicht konnten sie sich einen kleinen Brennabor leisten? Die Sache schien ihn zu verfolgen. Gestern, als er nach dem Arztbesuch einen Schlenker über die Spitalerstraße gemacht hatte, war er am Semperhaus vorbeigekommen, in dem seit geraumer Zeit die Bauverwaltung Räumlichkeiten bezogen hatte. Von hier aus steuerte sie den Ringbahnbau. Eigentlich hatte er sich über den Fortgang der Arbeiten und die in Planung befindlichen Bauabschnitte informieren wollen, damit er für die Sitzung alle Fakten parat hatte, aber dann ertappte er sich dabei, dass sein eigentliches Interesse der zukünftigen Anbindung noch abgelegener Randgebiete galt. Und wie der Zufall es wollte, hatte die ebenfalls im Semperhaus ansässige Firma Brennabor zwei ihrer Fahrzeuge vor dem Haus als Ausstellungsstücke präsentiert. Darunter das Einstiegsmodell, ein zweisitziger Tourenwagen mit zwei Zylindern und acht Pferdestärken, der schon für etwas über 3000 Mark zu haben war …
«Der gute Bischop. Sieh an, sieh an.»
Auf dem Treppenabsatz zum Senatsgehege stand Senator Johann Heinrich Burchard und streckte ihnen zur Begrüßung die Hand entgegen. Hauptmann Andresen war anzusehen, dass ihn die formlose Begrüßung überraschte.
Auch Sören war verblüfft. «Wie viele Jahre ist es her?», fragte er
Heibu
, den er schon seit Schulzeiten kannte. Seinen Spitznamen konnte er sich in Andresens Gegenwart gerade noch verkneifen.
Damals war der vier Jahre jüngere Burchard als Streber verschrien gewesen. Heibu, wie er unter den Alsterseglern genannt wurde, hatte es nie verknusen können, dass er gegen Sören nicht den Hauch einer Chance gehabt hatte – zumindest nicht auf dem Wasser. So war der Kontakt weniger kameradschaftlich als von Konkurrenz bestimmt gewesen. Die Standesunterschiede hatten ein Übriges dazu beigetragen, dass es zu keiner wirklichen Freundschaft gekommen war.
«Das möchte ich gar nicht wissen. Die Jahre würden uns nur vor Augen führen, wie alt wir geworden sind», erwiderte Burchard mit einem spitzbübischen Grinsen. «Jedenfalls hatten wir das Ruder noch selbst in der Hand.»
Sören wusste nicht recht, wie er Heibus letzten Satz zu deuten hatte. Es klang wie eine hintergründige Anspielung auf die Politik der Stadt. Bis vor kurzem hatte Burchard noch das Bürgermeisteramt innegehabt. Auch jetzt trug er sein Ornat mit Würde, ganz in der Pose des Weltmanns, der er war. Daran gab es keinen Zweifel. Zugegeben, seine tiefblauen Augen waren verblasst, und auch die aufrechte Haltung hatte er inzwischen eingebüßt, nur seine mächtige Hakennase hatte die Jahre anscheinend unversehrt überstanden; seine Ausstrahlung jedoch war ihm nicht abhandengekommen.
«Die Große Fahrt war nie mein Ziel», antwortete Sören gleichermaßen zweideutig. «Von daher war ich stets mein eigener Steuermann.»
«Den ich immer um seinen eigenwilligen Kurs beneidet habe», sagte Burchard und deutete den Hauch einer Verbeugung an. Dann fiel er von einem auf den anderen Moment in die Förmlichkeit des offiziellen Protokolls. «Darf ich darauf hinweisen, dass die Zusammenkunft nicht wie angekündigt im Phönix-Saal, sondern im größeren Bürgermeister-Saal stattfinden wird …»
An der Tür zum Bürgermeister-Saal wartete Carl August Schröder, Zweiter Bürgermeister der Stadt, und begrüßte die Gäste. Er war in Burchards Alter, vielleicht etwas jünger, aber im Gegensatz zu Heibu fehlte ihm dessen Aura, was er mit ständigen Hinweisen auf die Autorität seines Amtes vergeblich auszugleichen versuchte. Er hatte etwas gespielt Wichtigtuerisches, was jedem sofort auffallen musste. Vor allem heute, da Bürgermeister Predöhl, der derzeitige Amtsinhaber, verhindert war und Schröder die Rolle des Hausherrn zufiel. Was er
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