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Totenwall

Titel: Totenwall
Autoren: Boris Meyn
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passiv, ließen sich ansprechen, wie er wusste. «Gibt es Neuigkeiten aus Berlin?», fragte er.
    «Die angeforderten Aktenbestände sind mit dem Nachtzug unterwegs», erklärte Andresen. Dann war er wieder konzentriert bei der Sache. «Uns bleibt etwa eine halbe Stunde Dunkelheit. Um kurz nach elf wird sich der Mond zeigen. Ich kann nur hoffen, dass unser Mann pünktlich ist. Ich schlage vor, wir gehen in drei Gruppen. Ich gehe mit Roland voraus, und wir postieren uns jeweils an den Treppen, nach etwa zehn Minuten kommen Sie nach.» Er deutete auf David. «Dahinter in kurzem Abstand Ludwig und Herrmann, zum Schluss Sie. Und Sie bleiben unten und behalten die Zugänge im Auge.»
    Andresen zog eine Flasche Eau de Cologne aus dem Rock und beträufelte sich das Halstuch. Er war frisch rasiert und hatte seine Haare mit Pomade nach hinten gekämmt. «Ich werde reihum gehen und mit euch allen verhandeln. Im Flüsterton, versteht sich.» Sören staunte über seine Wandlungsfähigkeit. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einen Polizisten vor sich zu haben. Andresen blickte zur Uhr. «Los geht’s.»
    Vom Park der Elbhöhe aus konnte man die Laternen der patrouillierenden Gendarmen erkennen. Sören setzte sich auf eine Parkbank, zündete sich eine Zigarette an und wartete. Zehn Minuten sollte er den anderen Vorsprung geben, aber erst, wenn die Patrouille beendet war. Er nickte dem Nachtwächter auf seinem Gang zum Millerntor zu. Wenige Minuten später begann der Park sein geheimnisvolles Leben preiszugeben. Aus allen Ecken schlenderten wie zufällig Gestalten in Richtung nächtlichem Bismarck, dessen steinerne Gestalt mehr einem Roland als einem Reichskanzler glich.
    Mehr als fünfzig Meter stand er über dem Elbstrom, allein das Standbild maß eine Höhe von fünfzehn Metern, der Kopf war mannshoch. Gestützt auf ein riesiges Schwert und flankiert von zwei Reichsadlern, ruhte seine Gestalt auf einer Trommel, umgeben von einem festungsgleichen Sockel aus Schwarzwälder Granit. Vom gewaltigen Unterbau führten breite Treppen hinauf zu einem terrassenartigen Plateau. Dort hatte sich David verabredet. Man traf sich
bei
den
Jünglingen
, wie es im Jargon der Eingeweihten hieß. Gemeint waren die Jünglingsfiguren auf den dort angebrachten Reliefs, welche eigentlich die acht deutschen Volksstämme symbolisieren sollten.
    Die Dunkelheit verschleierte die Gesichter der Männer. Der Gang verriet ihr Anliegen. Die einen vorsichtig und zaghaft flanierend, die anderen kreisend, nach Beute Ausschau haltend. Sören warf im Vorbeigehen einen Blick auf die Treppe. Er konnte die Umrisse eines Mannes erkennen. Andresen hatte sich lässig gegen den Vorbau gelehnt. Sören passierte einen vollbärtigen Seemann, der ihn keines Blickes würdigte. Er hatte die Ärmel seines Buscherumps aufgekrempelt, im Vorbeigehen konnte Sören seine tätowierten Unterarme sehen. Ein junger Chinese verhandelte mit einem Kerl in merkwürdiger Verkleidung. Der Mann trug einen bunten Kaftan und eine weiße Pluderhose, ein auffallend heller Fleck in der Finsternis. Von den Bäumen des Parks näherte sich ein alter Mann, der sich auf einen Stock stützte. Er hatte eine Melone auf, und als er näher kam, konnte Sören erkennen, dass er gediegenen Zwirn trug. Sören blickte zur Uhr. Es war kurz vor elf. Aus dem Park kam ein entferntes Kichern.
    Sören umrundete den Sockelbau nun bereits zum dritten Mal. Herrmann stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf der untersten Treppenstufe, David hielt sich auf der oberen Terrasse auf. Wer hinaufwollte, musste an Herrmann oder Andresen vorbei. Der alte Mann mit dem Stock mühte sich die Stufen empor. Die Last seines Körpers ruhte schwer auf der Gehhilfe, auch wenn er kaum etwas auf die Waage bringen mochte. Sören behielt den Mann im Auge, bis sich die Gestalt in der Dunkelheit verlor.
    Plötzlich durchdrang ein Pfiff die nächtliche Stille. Für einen Moment war nur noch das entfernte Hämmern der Werftarbeiter auf der anderen Elbseite zu hören, dann gerieten die Männer um ihn herum in Bewegung. Vom Elbpark aus näherten sich zwei Laternen. Die Gendarmen auf erneuter Patrouille? Roland strich an ihm vorüber. «Ich kümmere mich», flüsterte er. Dann hielt er zielstrebig auf die Laternen zu. Was würde er den Männern sagen? Würden sie ihm folgen?
    Er blickte sich um. Die jungen Männer hatten sich verkrümelt. Der alte Mann mit dem Stock humpelte die letzten Stufen hinab. Sören ging zu Andresen. «Und nun?»,
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