Totenzimmer: Thriller (German Edition)
die Wohnung der Rechtsmedizinerin mit dem Blut des Mädchens zu streichen.
Ich glaube an Kontrolle und Vernunft, und aus diesem Grund will ich auch nicht mehr mitmachen, nichts mehr damit zu tun haben, will mich nicht der Panik anheimgeben; ich gehe zur Arbeit, beiße die Zähne zusammen und werfe immer wieder einen vorsichtigen Blick über die Schulter. Er aber ist voller Übermut, seine Wut dagegen ist unvermindert groß. Ich muss langsam einsehen, dass ich ihn nicht mehr steuern kann und er mich auf direktem Weg ins Gefängnis bringen wird, wenn ich ihn nicht ein für alle Mal los werde. Er macht mir Angst, erschreckt mich. Sogar über eine Flucht nach Deutschland habe ich schon nachgedacht. Aber ohne ihn und sein Wissen. Dort könnte ich dann abwarten, bis sie ihn finden, was bei seinem Verhalten nur eine Frage der Zeit sein wird.Aber da ist noch ein Punkt: Immer, wenn wir uns eines dieser Mädchen vorgenommen hatten, meldete er sich danach krank und widmete sich ganz seiner Ekstase und seinem enormen Schlafbedarf, während ich alles in Maßen genoss und brav meine Arbeit erledigte. Das hat mir zwar kein Alibi beschert, aber auch keine Abwesenheitstage, die auffällig mit den interessanten Perioden korrelieren. Und ich habe keine Spuren hinterlassen, während die Polizei mit Sicherheit bereits seine DNA aus dem Schweiß analysiert hat und vermutlich auch in der Lage sein wird, Reste dieses Stoffes in seinem Körper nachzuweisen.
Gestern habe ich meinen Vater angerufen und ihm gesagt, dass ich unter einer stressbedingten Depression leide, wie alle anderen hier, und ihn gebeten, mich für einen längeren Zeitraum krankzuschreiben. Er zögerte, wollte wohl, dass ich ihn anbettelte, aber ich sagte nur, dass ich auch sein Ansehen in den Schmutz ziehen würde, wenn er mir dieses Attest nicht ausstellte. »Sonst mache ich dich fertig, endgültig.«
So werde ich es machen. Ich werde mich nach Deutschland absetzen und abwarten, bis Larry sich selbst zu Fall bringt. Sollte er versuchen, mich mitzureißen, stünde mein Wort gegen das seine, und ich bin schließlich in vielerlei Hinsicht noch immer der Sohn des Oberarztes.
Es
gibt
Unterschiede zwischen den Menschen. Die Klugen steuern die Welt, die anderen werden von ihr zermalmt. Oder sollte ich ihn doch lieber beseitigen? Ich weiß nicht … er ist so groß, so wütend. Und so atemberaubend eklig.
Und du, liebes Tagebuch – vielleicht ist es an der Zeit, auch dich zu beseitigen?
Nein, das kann ich nicht, so simpel ist das nicht, es geht einfach nicht.
ODENSE, 21.–22. JULI 2009
27
In Nigeria, wo Nkem herkam, waren die Gründe, warum Menschen sich gegenseitig umbrachten, wenigstens verständlich; nicht gut, aber verständlich. Hausa schlachteten Igbo in irgendwelchen ethnischen Auseinandersetzungen ab, und die Igbo töteten sicher auch Hausa – diese Seite der Medaille hatte Nkem bestimmt nur vergessen zu erzählen. In den Dörfern wurden unerwünschte Familienmitglieder noch immer mit uralten Giftpülverchen beseitigt, die erst zu unglaublichen Schmerzen führten, bis dann irgendwann die Herzen der Ärmsten zu schlagen aufhörten. Dort tötete man nicht, um seine Lust zu befriedigen.
Ich lag auf dem Rücken und versuchte einzuschlafen. Schon seit Stunden verharrte ich in dieser Position und starrte ins Dunkel. Drüben in Nkems Wohnzimmer hörte ich die Uhr ticken. Nkem lag neben mir auf dem schmalen Bett und schlief fest, und ihre tiefen, ruhigen Atemzüge hätten auch mir Ruhe geben sollen. Aber das taten sie nicht. Ich spürte nicht einmal die Wirkung der Schlaftablette, die ich vor einigen Stunden genommen hatte, oder die halbe Flasche Rotwein, die ich unter Nkems kopfschüttelnden Protesten getrunken hatte. Ich drehte mich zu ihr und roch an ihren dichten Locken. Nkem hatte einen ganz speziellen Geruch nach Talkum und Gewürzen, gemischt mit dem Hauch eines süßen Parfüms, das sie aus Nigeria geschickt bekam. Sie hatte mich gefragt, ob ich Angst hätte, aber die hatte ich nicht, ich hatte nicht einmal verstanden, wie sie das fragen konnte. Ich fühlte mich nicht bedroht, weil Carsten Bjerre und Larry Tang Mortensen in meine Wohnung eingedrungen waren; ich sah darin nichts anderes als ihren Wunsch, mir ihre Übermacht und ihre Wut zu zeigen. Aber ich gehörte nicht zu ihrer Zielgruppe, siehatten eine ganz andere Agenda. Ich war wütend. Hatten diese beiden etwa komplett vergessen, total übersehen, dass sie nicht die Einzigen waren, die
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