Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Augustnacht, in der ich um 01.40 Uhr über die Nørre Voldgade ging, dachte ich daran. Ich konnte mich deshalb so genau daran erinnern, weil ich auf meine Armbanduhr schaute, als ich den gelben Nachtbus passieren ließ,ehe ich weiter auf das Tor des Ørstedsparks zuging. Ich war mir vollkommen bewusst darüber, dass der Mann mir folgte, aber er war schön, also machte ich mir keine Gedanken darüber. Den Schweiß auf meiner Stirn schrieb ich der warmen Nachtluft zu.
Vergewaltiger können doch nicht schön sein.
Außerdem ging ich so, wie ich es gelernt hatte, wenn man als Frau nachts allein in der Stadt war. Zielstrebig, trotz kurzem Rock mit langen Schritten, den Schlüsselbund hörbar klirrend in der Hand:
Du kriegst reichlich Schläge, wenn du mich berührst.
Ich war high von der Gitarrensuppe aus meinen Kopfhörern, dem Lärm, der das Loch in meinem Kopf stopfte, gerade hatte ich die Whitesnakes mit
Is this love
in meinem Walkman auf »repeat« gestellt. Es war 1990, alles war noch groß, schwarz und dunkel. Genau wie mein Walkman, groß, schwarz und schwer.
Is this love
. Noch heute bohren sich die dünnen, einleitenden Gitarrentöne unter meine Knochen – dorthin, wo es wehtut – und lassen mich in einem beinahe hypnotisch sehnsüchtigen Zustand zurück.
I should have known better, than to let you go alone …
Obwohl ich ihn gesehen hatte, hörte ich ihn nicht, er war in der Suppe aus Tönen und dem Sumpf meiner Gedanken verschwunden, so dass ich mich nicht einmal am schmiedeeisernen Tor umdrehte. Es war schwer, ich drückte in meinem abwesenden Zustand allerdings auch gegen die Mitte des Türflügels, und eilig hatte ich es auch nicht. Außerdem war es warm und dunkel, und ich liebte diesen Park, gerade wenn es warm und dunkel war und der Mond voll und rund am Himmel stand.
Der Ørstedspark im Dunkeln: wie ein Gemälde, das sich Nacht für Nacht, je nach Stellung des Mondes, ein bisschen veränderte. In dieser Nacht war der Park leer, der Mond hing schwer über dem See, und sein beruhigendes Spiegelbild klebte wie immer auf dem stillen Wasser. Es waren keine Enten zu sehen, jedenfalls konnte ich keine entdecken und natürlich auch nicht hören. Für mich gab esnur
Is this love
, ich hörte nicht einmal den Kies unter meinen Schuhen knirschen, dabei mochte ich dieses Geräusch sonst so gern.
Es war niemand auf dem Weg, auch die Bänke unten am Seeufer waren verwaist. Die Schwulen trafen sich auch damals schon hinten auf der anderen Seite des Wassers, auf der Brücke und rechts und links davon auf den Wegen oder in den Büschen.
Manche Dinge änderten sich eben nie.
Es war nicht mehr weit nach Hause, wo Michael mit einem Buch im Wohnzimmer saß; er würde nichts sagen, wenn ich zur Tür hereinkam, allenfalls kurz aufblicken, abwesend lächeln und sich dann wieder seinem Buch widmen und das Leben zwischen den Seiten weiterführen; ich stellte mir Sachen vor, er las sie. So kann man ein ganzes Leben leben.
Doch dann spürte ich die Hand auf meiner Schulter. Ich holte vor Schreck ganz tief Luft und drehte mich um: Es war der hübsche Mann, der mir gefolgt war und der mich jetzt, während mein Walkman
Is this love
spielte, in die Büsche stieß. Ich sah nur, wie sich sein Mund bewegte, hörte aber nicht, was er sagte. Er sah so nett aus, und mein Arm streckte sich zu ihm aus, aber zu langsam, denn er stieß mich weiter, ein, zwei Mal, bis ich ins Taumeln geriet und irgendwo zwischen grünen Zweigen zu Boden ging.
Is this love or am I dreaming
. Irgendwie musste ich mir wohl den Kopf gestoßen und für kurze Zeit das Bewusstsein verloren haben, denn als ich wieder zu mir kam, lag er auf mir, die Ellenbogen auf meine Brust gestützt, so dass ich nicht aufstehen konnte. Aber das machte nichts. Plötzlich war er in mir und küsste mich dabei so zart, dass ich weinen musste; er nahm die Ellenbogen von meiner Brust und ich streckte meinen Arm aus. Wir bewegten uns wie in Zeitlupe; ich legte meine Hand hinter seinen Nacken, zog ihn zu mir nach unten und küsste ihn. Für einen kurzen Moment war es wie die Szene eines Films, aber es war mein Film, meine Musik, mein Traum.
Ich hätte Angst haben sollen, aber er küsste mich wie ein Liebhaber,und die Musik, die ich später fürchten sollte, spielte weiter, endlos auf Repeat gestellt. Ja, sie würde auch dann noch zu hören sein, wenn ich zerschmettert in meinem Autowrack klemmte. Die Musik war wie die blanke Verhöhnung meines Todes, nur dass ich alles andere als
Weitere Kostenlose Bücher