Totenzimmer: Thriller (German Edition)
entgehen:
möglich, vielleicht, später
.
Großvater war der Einzige aus meiner Familie, der mir noch geblieben war, ein liebenswerter alter Kauz. Aber Rødekro war ein Ort, an dem die Zeit stillstand, dort waren die Tage mehr als doppelt so lang, und das konnte ich im Moment nicht ertragen.
Samstagfrüh war das Wetter noch immer seltsam mediterran. Ich fuhr, ausgestattet mit Fahrradhose, Helm und Sonnencreme und in viel zu hohem Tempo Richtung Süden. Abends um elf Uhr schlief ich so erschöpft auf der Bank am Gudmesee ein, dass ich erst am nächsten Morgen gegen vier aufwachte, weil ich fror und diese verfluchten Vögel wieder ihren Gesang angestimmt hatten. Mir tat alles weh. Luftlinie waren es zwar nur vierzig Kilometer vom Jagtvej bis nach Gudme, aber bei all den verschlungenen kleinen Wegen, die ich genommen hatte, war die zurückgelegte Strecke sicher doppelt so lang. Meine Beine fühlten sich an wie aufgepumpter Schinken,und mein Nacken war steif. Meine Kopfhaut juckte, und mein Fahrradhelm war voller Schuppen. Eine Weile saß ich jammernd da und starrte über das Wasser, auf dem keine Enten zu sehen waren. Die Vorstellung, dass Emilie hier gelegen hatte, fiel mir noch immer schwer. Die Pfosten, an denen der einfache Elektrodraht befestigt war, wuchsen wie Bäume geradezu organisch aus dem Boden, die gefleckten Kühe grasten friedlich im diesigen, schräg einfallenden Morgenlicht, und das Wasser war blank und still wie ein Spiegel. Es war einfach schön, ruhig und friedlich. Womit hatte ich gerechnet? Hatte ich geglaubt, ein Wiedersehen mit diesem See würde mir dabei helfen, das Rätsel um Emilies Tod zu lösen? Mit viel Ach und Weh gelang es mir, meinen schmerzenden Körper aufzurichten und in Richtung Svendborg zu radeln, um irgendwo zu frühstücken und vielleicht ein weiches Plätzchen zu finden, an dem ich liegen und mich meinem Selbstmitleid hingeben konnte.
In den nächsten Tagen quälte ich mich regelmäßig bis zur totalen Erschöpfung. Ich fuhr Fahrrad, litt, versank in traumlosem Schlaf, wachte auf, litt erneut und fuhr weiter. Unwillkommene Gedanken hatten nicht die Spur einer Chance, durch die dicke Schicht aus Leiden und Müdigkeit zu dringen. Jede Nacht schlief ich zwölf Stunden durch und ersäufte mich den Rest der Zeit bereitwillig in einer Hölle aus Schmerzen. Der Bereich zwischen Daumen und Zeigefinger war so überbelastet, dass er konstant schmerzte und pochte, und ich vermisste die Fahrradhandschuhe, die ich früher einmal gehabt hatte. Donnerstagabend stellte ich das Fahrrad wieder in den Keller und kletterte mit müden Beinen in den zweiten Stock empor. Ich hätte wirklich den Umfang meiner Oberschenkel messen sollen, bevor ich losgefahren war: Er hatte sich bestimmt verdoppelt.
Liebes Tagebuch,
wir sprachen nicht miteinander bei uns zu Hause. Meine Mutter zwitscherte natürlich eifrig drauflos, aber das war ein einsames, gleichgültiges Plappern, das nie zu einem Gespräch eskalierte. Niemand zwitscherte zurück. Mein Vater aß schweigend. Ich wusste, dass unser Schweigen sie bedrückte. Es war eine Qual für sie, mit uns, die wir nichts sagten, an einem Tisch zu sitzen. Je mehr sie zwitscherte, desto verbissener schwiegen wir. Es war herrlich.
Manchmal luden meine Eltern an den Wochenenden Gäste ein, in der Regel eine Auswahl der Honoratioren der Stadt. Dann gab es Suppe, Steak und Eis, gefolgt von einem Kaffee und Gebäck, das dann vor dem Aquarium eingenommen wurde. Meine Mutter verbrachte diese Tage mit hektischen roten Wangen in der Küche, bis abends ein Mädchen zum Servieren zu uns kam und ihr half. Manchmal, wenn die Sitzordnung das zuließ, saß ich mit am Tisch. Bei diesen Anlässen wunderte ich mich über meinen Vater. Er lachte, er redete und wirkte dabei sowohl klug als auch umgänglich. Er war in diesen Momenten ganz und gar nicht mehr der stille Mann, der er in den übrigen Tagen der Woche zu sein pflegte.
Warum?
Weil keiner von uns, weder meine Mutter noch ich, ein Gespräch wert war.
Ich kippte Reinigungsmittel in sein Aquarium, und bald darauf schwammen all seine glotzenden Fische kieloben. Er fragte nicht einmal, ob ich etwas damit zu tun hatte, denn er traute mir nichts zu. Nicht einmal die Fähigkeit, den pH-Wert seines Aquariums zu verändern.
Dann setzte ich seinen Rasenmäher in Brand. Zugegeben, da hatte ich ein wenig getrunken, aber nicht viel. Ich mag es nicht, die Kontrolle zu verlieren, an diesem Tag aber hatte ich eine Mischung
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