Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Blick. Ich sollte ihr das erklären, aber so etwas konnte ich noch nie gut, und Lust dazu hatte ich auch keine. Ich wollte einfach nur einen Rat oder eine mütterliche Standpauke.
»Weil ich es genossen habe. Verflucht, ich weiß wirklich nicht, wie ich das verstehen soll. Irgendwie finde ich ihn gleichermaßen anziehend wie abstoßend, und beides auf ziemlich intensive Weise. Ich träume davon, mit ihm ins Bett zu gehen, und muss anschließend kotzen.«
»Hmmm«, sagte sie nur. Und ich wusste, dass sie am Abend für mich beten würde. Seit dem Tag, an dem ich ihr von dem schönen, jungen Mann im Ørstedspark erzählt hatte, betete sie für mich.
Ich drückte die Zigarette aus und setzte mich neben sie. Ihre missbilligend nach oben gezogenen Augenbrauen verrieten mir, dass ich nach Rauch roch.
»Dann musst du kündigen – aber das tust du nicht, es sei denn, ich kündige auch, aber das tue ich nicht, mir ging es nie besser als hier.«
»Was tut dieses kleine Scheißinstitut denn schon für dich?« Wie durch ein Wunder wurde aus meinem wütenden Fauchen ein vollständiger Satz.
»Hier herrscht nicht annähernd der gleiche Stress wie in Kopenhagen. Ich habe die Möglichkeit, mich wirklich in eine Sache zu vertiefen. Das ist mir sehr wichtig. Ich bin eine alte Frau, Stress ist nichts mehr für mich.«
Nkem war einundfünfzig, sah aber aus wie siebzehn. In ihrem perfekten Gesicht war nicht eine Falte zu erkennen, so dass es mehr als schwierig war, sie ernst zu nehmen, wenn sie sich selbst als alte Frau beschrieb. Wie viele alte Frauen liefen schon Marathon und kletterten in ihren Ferien die Berge rauf und runter? Zogen die Vorhänge zu und tanzten stundenlang zu Gospelmusik?
»Dann bleibt dir nur noch eine Möglichkeit«, sagte sie und erhob sich geschmeidig wie eine Katze. »Du tust so, als wäre nichts geschehen. Die Menschen vergessen. Und was Bonde Madsen angeht, kommt sicher bald eine neue Blondine, auf die er sich stürzen kann. Komm, wir sind schon fünf Minuten zu spät.« Sie zog mich hoch. »Du kannst dich dann gleich darin üben, dir nichts anmerken zu lassen. Die Zeit vergeht, und die Menschen vergessen.«
Daaim flaaez, peeepl farget.
In der Bibliothek war Bonde Madsen dabei, einen uralten Diaprojektor aufzustellen, damit er uns seine Bilder aus der Westbank zeigen konnte. Es war eine Befreiung, als endlich das Licht ausgeschaltet wurde. Trotzdem spürte ich auch noch im Dunkeln Helles eiskalten Blick auf mir ruhen. Ich überlebte, indem ich mich darauf konzentrierte, meine Möglichkeiten noch einmal durchzugehen. Als das Licht wieder eingeschaltet wurde, hatte ich außer dem Klicken des antiken Geräts und dem unaufhörlichen Nagen meiner fruchtlosenGedanken nichts mitbekommen; vor meinen Augen hatten sich die ganze Zeit über andere Szenen abgespielt, in denen Tod, Scham und Pornografie um meine Aufmerksamkeit kämpften: der halb erigierte Penis, das entsetzte Gesicht in der Tür, die feuchten, schlaffen Lippen.
Und so ging es auch den Rest der Woche weiter. Ich hatte nur eine Obduktion, der Auftrag einer Versicherung, die wissen wollte, ob ein alter Mann durch das Asbest gestorben war, das er während seiner Arbeit eingeatmet hatte. Daneben gab es noch ein paar Untersuchungen, unter anderem die eines angeblichen Folterungsopfers, das vermutlich Asyl bekommen würde, da meine Untersuchungen seine eigenen Angaben bestätigten.
Endlich hatte ich die Zeit, aufzuräumen und meinen Schreibtisch in Ordnung zu bringen.
Im Juli war das Institut in der Regel voll besetzt. Bonde Madsen und die Hälfte der Angestellten hatten im Juni Ferien genommen, der Rest wollte das im August tun, so dass wir eigentlich zu zahlreich für unser recht überschaubares Pensum waren. Mit anderen Worten hatte ich reichlich Zeit, mich den beiden Dingen zu widmen, die mich fast schon obsessiv beschäftigten: die Rotfärbung der Haut, die ich bei Emilie gefunden hatte, und meine mit Abscheu gemischte Faszination für Dr. Bonde Madsen. Die ganze Woche hindurch fand Bonde Madsen bizarre Vorwände, um mich in meinem Büro zu besuchen. So häufig hatte er mich noch nie in fachlichen Dingen um Rat fragen müssen, obwohl es sich eigentlich um Fragen handelte, die sein Fachgebiet betrafen und nicht meins. Am Mittwochnachmittag saß ich im Büro und hörte The Voice, als er plötzlich seine trockene Hand auf meine Schulter legte. Ich blieb sitzen und schrieb weiter an der E-Mail, die ich begonnen hatte, ohne ihn zu beachten.
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