Totenzimmer: Thriller (German Edition)
ein Übergriff angefühlt«, wiederholte ich. »Eher wie eine … Erlösung. Lass uns weitergehen, ich friere.«
Wir gingen langsam über den Parkweg. Bald konnte ich durch die blätterlosen Zweige die erleuchteten Fenster meiner Wohnung sehen, hinter denen Michael auf mich wartete.
»Erlösung.« Nkem schüttelte verständnislos den Kopf. »Und was ist mit Michael …«, begann sie, aber ich war weit weg.
»Manche Frauen sehnen sich nach einer Vergewaltigung, geben sie sogar in Auftrag. Es gibt also auch noch andere, die das nicht als Übergriff empfinden – oder sich eben gerne solchen Übergriffen aussetzen. Frauen, die ›Übergriffe‹ nicht notwendigerweise als etwas Negatives auffassen.«
Sie sah mich mit einem leeren Blick an. In diesem Augenblick gefiel mir ihr Gesicht gar nicht.
»Das ist aber auch nicht normal.«
»Muss denn immer alles normal sein, damit es gut ist? Für einige Frauen ist eben so etwas normal.«
»Das sind dann aber bestimmt diese SM-Frauen …« Nkems Stimme klang noch immer wütend. Sie blieb stehen und musterte mich. »Bist du so eine?« Sie sah aus, als wollte sie schreiend das Weite suchen, wenn ich ja sagte.
»Hm, nein. Ich glaube nicht.«
»Hm, aber …?«
Ich sah Michaels Profil im Fenster. Wahrscheinlich las er gerade ein Buch. Und dann erzählte ich Nkem, dass auch ich hin und wieder einen solchen Übergriff in Auftrag gab. Etwa zweimal pro Jahr. Michaels Gesicht hinter dem Fenster wandte sich mir zu, und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, von seinen Augen aufgespießt zu werden, ehe sie wieder ins Leere blickten und sein Blick verlosch. Einbildung. Ich schloss die Augen und verdrängte das Bild.
»Ja, aber
warum
?« Soviel Enttäuschung lag in diesem kleinen Wort.
Warum
. Nkem wollte eine normale Freundin haben, und jetzt erzählte ich ihr, dass ich diese Rolle niemals würde einnehmen können. Meine akademischen Titel, meine nette Erscheinung, mein »Zusammenleben« mit einem Mann – alles nur Fassade. In Wahrheit war ich eine von denen, über die man den Kopf schüttelte und die man nicht verstehen konnte. Abnormal.
»Warum?«, wiederholte sie. »Erlösung? Ich verstehe das nicht mal ansatzweise.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nicht Erlösung. Das war nur beim ersten Mal so.« Aber ich konnte ihr nicht sagen, warum. Ich hatte keine Ahnung. Das Wort »Erlösung« war wie von selbst gekommen, betraf aber nur den hübschen Mann mit der Lederjacke. Das einzige Wort, das mir zu den anderen Malen einfiel, war »Aderlass«. Und auch das war nicht gerade ein Wort, das unter normalen Menschen gebräuchlich war.
Ein junger Mann lief leichtfüßig und mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, an uns vorbei durch die Kälte. Seine Sneakers knirschten über den Kies und übertönten das Klopfen meines Herzens und die Geräusche meines Atems.
»Wahrscheinlich ist das wie bei diesen Leuten, die Bungeejumping machen …«, begann ich. »Oder Extremsport. Nicht wahr?« Nkems Blicke waren wie tödliche Gewehrsalven, und ich zweifelte nicht daran, dass ich um mein Leben kämpfte. »Ich glaube, ich brauche das, wenn meine Gedanken verschlammen. Das ist irgendwie physisch. Entfernt all den Müll aus meinem Kopf, wenn mein Leben mich langweilt und ich nichts mehr spüren kann. Macht man nicht auch deswegen so einen Bungeesprung?«
Ich spürte förmlich, wie sie sich vor mir zurückzog, weshalb ich mich mit festem Griff bei ihr einhakte. Ich klammerte mich an sie und versuchte ihr zu sagen, dass ich sie brauchte und sie mir nicht den Rücken zuwenden durfte. Natürlich hätte ich sie fragen können, ob sie wirklich der Meinung war, ein Sadist könnte genaue Gründe dafür nennen, dass es ihm eine solche Befriedigung verschaffte, Schmerz zu verbreiten. War es nicht vielmehr so, dass man irgendwann einfach die Frage nach dem Warum aufgab? Was war mit Männern, die in Windeln herumliefen, wussten die, warum sie das taten? Wussten Schwule, warum sie auf Männer standen, oder spürtensie einfach nur, dass es eben so war? Klar, ich hätte all diese Argumente vorbringen können, sie hätten Sinn ergeben, und trotzdem hätten sie mir Nkem nicht zurückgebracht.
»Ich glaube …«, begann ich und spürte die Panik in mir aufsteigen. »Weißt du … warum – kannst du erklären, warum du kein Bier magst, wohl aber Wein? Warum du keine Austern isst, dafür aber sehr gerne Lachs?«
»Das ist etwas anderes.«
»Es geht einfach darum, was
Weitere Kostenlose Bücher