Totenzimmer: Thriller (German Edition)
wir mögen und was nicht, was wir brauchen und wozu wir Lust haben. All das … das kann kein Mensch erklären.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber was ist, wenn das Ganze eines Tages außer Kontrolle gerät? Ich habe Angst, dass dir etwas passiert. Diese Menschen …« Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr. Wir gingen über die Brücke und den ganzen Weg um den See herum, wobei wir noch einmal an unserem Fenster vorbeikamen. Langsam spürte ich, dass Nkem sich entspannte und mir wieder näherkam. Deshalb wagte ich es, noch einen Schritt weiterzugehen und gleich alles hinter mich zu bringen. Ich lockte sie in Fuchs’ Weinstube, bestellte zwei Gläser Wein, trank beide selbst und erzählte ihr von Emilie. Das Spiel begann von Neuem: Sie gab ihre übliche Vorstellung, sah betroffen von einer Seite zur anderen und schlug sich selbst mit beiden Händen auf die Oberschenkel. Ein alter Mann prostete mir aus einer einsamen Ecke zu, und zwei junge Kerle beobachteten uns mit etwas benebeltem Blick. Irgendwo würfelte jemand, und hinter uns lachte ein ganzer Tisch. Ich versuchte, mich zu sammeln.
»Kinder haben Fantasiefreunde. Das ist ganz normal. Ein Überlebensmechanis …«
»Aber Maria, du bist Mitte dreißig! Es ist nicht normal, in diesem Alter Fantasiekinder zu haben!«
It iznt norrrmal!
»Das ist doch nur eine Vorstellung, ein Tagtraum. Erzähl mirnicht, dass du nicht träumst – zum Beispiel davon, eine andere zu sein oder etwas zu können, das du nicht kannst, irgendwo zu sein, wo du nicht bist.«
Sie hörte auf, den Kopf zu schütteln, und verzog den Mund zu einem dunklen Lächeln. »Doch, doch. Vor dem Einschlafen stelle ich mir oft vor, so eine Singer-Songwriterin zu sein, die in einem Restaurant sitzt und für die Gäste spielt. Ich trage ein langes, rotes Kleid und sehe aus wie Tracy Chapman … nur so laut bin ich nicht. Ich habe eine spröde, dünne Stimme, und auch das Kellerlokal ist nicht gerade toll. Es hat eine seltsam kalte Akustik, aber die Menschen lächeln mich an und wären gerne wie ich. In Wirklichkeit treffe ich ja nicht einen Ton.« Sie grinste von Ohr zu Ohr, als wäre sie froh darüber, nicht singen zu können.
»Und erzähl mir nicht«, fuhr ich fort, »dass du nicht schon mal ganz bewusst davon geträumt hast, Kinder zu haben, und dir vorgestellt hast, wie sie aussehen würden.«
Ihr Lächeln verschwand, und sie blickte auf ihre Hände. »Ich sehe mich selbst an einem Wickeltisch mit einem richtig süßen schwarzen Wonneproppen. Ich weiß nicht, ob das Baby ein Junge oder ein Mädchen ist, weil es in einem dunkelroten Strampelanzug steckt. Es windet sich herum und hat so viel Kraft, dass ich es kaum halten kann – ich habe auch noch viele andere, immer wiederkehrende Bilder, aber keine …« Sie sah mich an und sagte dann ganz leise: »Aber keine ganze Geschichte, keine Tochter, die Jahr für Jahr älter wird.« Sie schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich nicht.«
Und dann sprachen wir nicht mehr darüber, neun Jahre lang, bis die Tochter einer anderen Frau starb und ich sie obduzieren musste.
Nkem hatte Hunger. Schon wieder. Ich war müde und wollte nur einen kleinen Bissen, ein Glas Wein und dann nach Hause ins Bett. Zu viel frische Luft vielleicht, zu viele noch unverdaute Erkenntnisse. Wir packten also unsere Sachen zusammen und fuhren mitdem Auto ins La Piazza, wo man ungestört essen konnte. Nkem aß ihre Pasta in Windeseile und sagte dabei kein Wort. Ich starrte auf die Tischplatte, stocherte fast genauso wortlos in meinem Essen herum und fragte mich, wie ich es ihr sagen sollte. Natürlich fragte sie irgendwann, was mit mir los sei. Drei Mal. Schließlich erzählte ich ihr alles bis ins Detail, Schritt für Schritt, und noch lange bevor ich bei der Obduktion von Emilie angelangt war, ja noch während ich mit starr auf den Teller gerichtetem Blick und leisen Worten von meinem Schock am Gudmesee erzählte, begann sie, ihren Kopf langsam, aber entschieden hin und her zu bewegen, rhythmisch, als wollte sie damit sagen, wie dumm ich war,
dumm, dumm, dumm
. Ich sah weg, ließ meinen Blick durch das gemütliche Restaurant mit den Holztischen gleiten, den bequemen Stühlen, den Weinflaschen unter der Decke, der Pasta, die in Cellophan gewickelt zum Verkauf stand, den hübschen Italienern und dem guten Essen, das in kleinen Portionen überall auf den Tellern lag. Schließlich verstummte auch ich. Eine Familie mit Kindern lärmte ganz in unserer Nähe, und ich
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