Totes Meer
hinausgefahren war, dass die Brände nur noch ein gedämpftes Glühen am Horizont waren, entspannten sich alle ein wenig. Doch es gab immer noch viel zu tun. Mitch und ich mussten Schlafplätze für die Kinder finden – der Mann in der Küstenwachenuniform nannte sie »Anlegeplätze« -, und auch wir brauchten einen Platz. Schließlich landeten wir in einem Raum mit sechs Betten – Stockbetten, drei auf jeder Seite. Unter den Matratzen entdeckten wir jeweils einen kleinen Stauraum. Außerdem hatte jeder von uns einen kleinen Spind, in dem er seine Sachen unterbringen konnte. Wir hatten allerdings nicht viel. Ich zog meine Brieftasche und meine Schlüssel hervor und legte sie in den Spind. Es schien verrückt. Genauso gut hätte ich sie über Bord werfen können, denn jetzt nützten sie mir nichts mehr. Die Schlüssel gehörten zu einem Leben, das ich zurückgelassen hatte, einem Leben, in das ich nie wieder zurückkehren
würde. Und die Brieftasche war leer – keine Fotos, kein Geld. Ich hatte noch nie viel mit Schnappschüssen anfangen können. Und Geld? Tja, davon hatte ich auch nie viel gehabt. Und jetzt brauchte ich keines mehr. Was half Geld, wenn es nichts gab, was man davon kaufen konnte? Was brachten einem Fotos von Freunden und Familie, wenn alle tot waren? Es gab nicht viele Menschen, die mir etwas bedeuteten, aber die wenigen trug ich in meiner Erinnerung bei mir. Wenn ich jetzt Bilder von ihnen betrachten würde, sähe ich sie nur als Zombies.
Mitch holte ein kleines Reinigungsset aus seinem Rucksack und begann, die Waffen zu säubern. Mit langen Baumwollstreifen holte er Steinchen und Rückstände aus den Läufen, dann ölte er sie ein. Während er arbeitete, erklärte er uns jeden einzelnen Schritt, damit wir es später selbst machen konnten. Als er fertig war, verstaute er die Waffen unter seiner Matratze und schob eine Pistole unter sein Kopfkissen. Er packte seinen Rucksack nicht aus. Stattdessen schob er ihn zwischen sein Bett und die Wand. Dann zog er sich die Stiefel aus und legte sich hin. Wir folgten seinem Beispiel. Auf jedem Bett gab es ein winziges Kissen, ein Laken und eine dünne graue Decke, die sich anfühlte, als wäre sie aus Pferdehaar gemacht – sehr rau und kratzig. Sie rochen staubig und modrig.
»Mein Kissen stinkt«, beschwerte ich mich.
»Meins auch.« Tasha zog angewidert die Nase kraus. »Riecht wie ein Zombie.«
»Kein Wunder«, meinte Mitch. »Die liegen wahrscheinlich schon seit ungefähr zwanzig Jahren auf diesem Schiff.«
Ich stützte mich auf einen Ellbogen. »Wie meinst du das?«
»Das ist ein Museumsschiff«, erklärte er. »Die Spratling ist ein Stück amerikanischer Geschichte, also haben sie sie nicht zum Schrottplatz geschickt, damit man Rasierklingen aus ihr macht, sondern das Schifffahrtsmuseum hat sie restauriert und in eine schwimmende Touristenfalle verwandelt, genau wie die anderen alten Schiffe im Hafen.«
»Okay«, meinte ich, »aber was hat das damit zu tun, dass diese Kissen komisch riechen?«
»Denk nach, Lamar. Das hier ist ein Museum. Eine Touristenattraktion. Wie lange lebst du schon in Baltimore?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Mein ganzes Leben.«
»Und in der ganzen Zeit hast du dir nie die Schiffe angesehen? Nicht einmal, als die Taney noch hier war?«
»Nein. Ich meine, ich wusste von ihnen. Kannte ihre Geschichte ein bisschen. Aber ich habe sie mir nie angesehen.«
»Verdammt nochmal. Obwohl, ich darf da wahrscheinlich nichts sagen. Ich habe so viele Jahre in Towson gelebt, aber ich bin nie in die Stadt gegangen und habe das Grab von Edgar Allan Poe besucht.«
Das verriet mir etwas über ihn. Towson war ein
Vorort, weit draußen am Stadtrand. Ich fragte mich, wie es Mitch nach Fells Point verschlagen hatte.
»Warst du ein Poe-Fan?«, fragte ich.
»Klar. Als ich in der neunten Klasse war, habe ich alles von ihm gelesen, was ich finden konnte. Mein Großvater hat mir einen Sammelband geschenkt, wo seine ganzen Kurzgeschichten drin waren. Meine Lieblingsgeschichte war immer ›Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym‹.« Er kicherte. »Jetzt fällt’s mir wieder ein, sie spielt auf einem Schiff- einem Schiff, das zum Südpol segelt.«
»Wenn du dir sein Werk reingezogen hast, warum hast du dann nicht sein Grab besucht?«
»Mir war nicht danach, erschossen zu werden. Das ist ein übles Viertel, oder nicht?«
Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Wenn du in der Stadt lebst, sind eigentlich überall üble Viertel,
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