Totes Meer
Mitch. So ist es nun mal. Man gewöhnt sich daran.«
»Ja«, meinte er, »ich verstehe.«
Aber ich wusste, dass er es nie wirklich verstehen würde. Konnte er gar nicht. Er hatte keine Vergleichsmöglichkeiten, nur das, was er im Fernsehen gesehen hatte, bei Homicide oder The Wire. Tasha und Malik wussten das auch. Sie sagten nichts. Mussten sie auch nicht. Ihre Gesichter verrieten genug. Mitch kam aus einer anderen Welt.
»Jedenfalls«, fuhr Mitch fort, »war die Spralting immer eine ziemlich beliebte Attraktion. Nicht nur bei Touristen. Die haben auch Hochzeiten und so was an Bord abgehalten. Also sind hier im Laufe der Jahre
viele Leute durchgetrampelt. Wenn die Leute an Bord kommen, wollen sie nacherleben, wie es für die Männer war, die hier gedient haben. Sie kommen über die Planke, genau wie wir. Dann führt sie der Tourguide auf Deck herum und zeigt ihnen alles. Beantwortet ihre Fragen. Dann gehen sie nach unten, über die Originaltreppe, wie die Mannschaft es getan hätte. Und wie in jedem anderen Museum gibt es auf der Tour irgendwelche Sachen zu sehen: alte Fotos, das Logbuch, solchen Kram eben. Und natürlich sorgen sie dafür, dass die Betten genau so gemacht sind, wie sie es gewesen wären, als die Spratling noch im Dienst stand.«
»Das heißt -«
»Genau. Dein Kissen stinkt, weil hier im Laufe der Jahre Tausende von Touristen durchgestiefelt sind und ihren Spaß damit hatten. Hausfrauen aus Illinois, die sagen: ›Hey, George, leg dich mal wie ein Seemann auf das Bett, dann mache ich ein Bild von dir und den Kindern.‹ Denk mal drüber nach.«
Ich rümpfte die Nase. »Das ist eklig.«
Da sie von den Strapazen völlig erschöpft waren, schliefen Tasha und Malik kurz darauf ein. Mitch und ich lagen schweigend in der Dunkelheit, da wir sie nicht stören wollten. Die Kinder hatten jeweils die oberen Betten genommen, Mitch und ich die unteren. Die beiden anderen Betten blieben leer, und ich schätzte, dass es genügend Kabinen gab, so dass wir unser Quartier nicht noch mit Fremden teilen mussten. Tasha schnarchte leise, und Malik schrie einmal
im Schlaf, war dann aber still. Ich fragte mich, was sie träumten. Durchlebten sie noch einmal den Tag, oder verwandelten sie im Schlaf ihre Lieben in Zombies? Das hatte ich früher schon getan – mir Gedanken über die Träume diverser Partner gemacht, die neben mir schliefen, hatte vorgegeben, ihre Träume und Albträume zu kennen und zu verstehen, da ich keine eigenen hatte.
Irgendwann kroch Mitch aus seinem Bett und hielt ein Päckchen Zigaretten hoch, um mir zu signalisieren, dass er draußen eine rauchen wollte. Ich nickte, woraufhin er auf Zehenspitzen zur Tür schlich und die Lukentür öffnete. Obwohl er sich größte Mühe gab, leise zu sein, schepperte die Stahltür, als er sie hinter sich schloss. Die Kinder rührten sich nicht.
Das Schiff schaukelte sanft hin und her. Man bemerkte es kaum, bis man versuchte zu gehen oder auf dem Rücken lag. Dann wurde das Gefühl am stärksten. Es war ein kontinuierliches, gleichmäßiges Wiegen. Mein Magen hob sich bei jedem Wechsel. Saure Galle stieg in meiner Kehle auf. Mein Trommelfell pochte. Ich fragte mich, ob es nur Seekrankheit war oder eine verzögerte Schockreaktion auf die Ereignisse des Abends. Ich war erschöpft, glaubte aber nicht, schlafen zu können. Doch dann tat ich es. Schlief ein, während ich an Alan und den Supermarkt dachte und an die Schlampe, der ich den Kopfweggepustet hatte.
Falls ich träumte, erinnere ich mich nicht daran.
Das tat ich nie.
Am nächsten Tag sah ich, was Mitch gemeint hatte. Die Spratling war tatsächlich nichts anderes als ein schwimmendes Museum. Alle Originalteile der Inneneinrichtung waren restauriert worden, doch vieles von der Ausstattung war nicht funktionstüchtig. Ich fragte mich, was funktionierte und was nicht. Zu unserem Glück konnte sie immer noch fahren. Überall auf dem Schiff gab es gerahmte Erinnerungsstücke aus ihren aktiven Jahren: Uniformen, Nachbauten der Waffen, alte Fotos, Seiten aus dem Logbuch, Speisekarten und anderes. Viele von ihnen befanden sich in gläsernen Schaukästen, die mit eingespielten Soundeffekten und Audiokommentaren ausgestattet waren sowie mit roten Samtkordeln, die die Touristen auf gebührlichem Abstand hielten.
Die Duschen zu finden war nicht schwer, doch sie funktionierten nicht. Ein Weißer namens Murphy stand an einem Waschbecken, starrte in einen gesprungenen Spiegel und rasierte sich ohne Wasser,
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