Totes Zebra zugelaufen
hätte gelten können. Sie begrüßte ihn mit kindlichem Überschwang.
Forrest kam ihm schließlich zu Hilfe. »Ich weiß, daß Sie mit uns sprechen wollen, Virgil, und wir stehen natürlich zu Ihrer Verfügung. Aber es wäre nett, wenn wir damit bis nach dem Mittagessen warten könnten. Wir haben heute Gäste.«
Tibbs erklärte sich einverstanden. Es war ihm peinlich, daß er sich ihnen unabsichtlich zum Mittagessen aufgedrängt hatte. Er hätte natürlich sagen können, er habe schon gegessen, doch um halb zwölf Uhr morgens hätte das unwahrscheinlich geklungen und vielleicht beleidigend gewirkt. Zum erstenmal machte er sich klar, daß diese Menschen, weil sie Nudisten waren, ebenso wie er schon oft den Stachel des Vorurteils zu spüren bekommen hatten. Sie hatten es zwar freiwillig auf sich genommen, doch gewiß gab es Zeiten, da sie öffentlichen Spott und unverhohlene Verachtung ertragen mußten. Äußerlich schienen die Dinge anders zu liegen als in seinem Fall, doch der eigentliche Vorwurf, den man ihnen ebenso machte wie ihm, war der, anders zu sein. In einer Gesellschaft, die Außenseiter manchmal mit Ehrungen überschüttete, kam es, das wußte er, noch häufiger vor, daß man sie haßte und verachtete, eben weil sie sich von den anderen unterschieden.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als George eintrat. Im ersten Moment fand Tibbs, daß der junge Mann in Gegenwart seiner Mutter wenigstens Shorts tragen sollte. Er stand auf und begrüßte George ein wenig verlegen. Seine geistige Abwesenheit hatte ihn aus der Wirklichkeit gerissen. »Lieber Himmel, Virgil, ziehen Sie doch Ihr Jackett aus«, drängte George. »Es ist so warm heute.«
Tibbs wurde bewußt, daß er sich hier nicht nur wegen seiner Hautfarbe unbehaglich gefühlt hatte, sondern außerdem wegen seines korrekten Anzugs in einer Umgebung, wo Kleidung reine Zwecksache war. »Hm, das Jackett ziehe ich nur zu gern aus«, bekannte er. Er schlüpfte aus dem Sakko und hängte ihn über eine Stuhllehne.
»Wir sind jetzt vierunddreißig zum Essen«, berichtete George seiner Mutter, die in der Schürze am Herd stand. »Abe und Sarah sind gekommen, und außerdem Don und Pam.«
Emily nickte, anscheinend ganz gelassen. »Wir machen das Essen hier«, erklärte Forrest, »und bringen es dann in den Speisesaal. Wochentags lohnt es sich nicht, die große Küche zu öffnen.«
Emily öffnete das Backrohr und nahm mehrere große Töpfe heraus, denen ein verlockender Duft entstieg. George setzte sie auf einen großen Teewagen und schob ihn hinaus. In diesem Augenblick, da manche Hausfrau sich seufzend die Stirn gewischt hätte, lächelte Emily nur und sagte zu ihrem unerwarteten Gast: »Wir essen gleich. George und Linda versorgen nur die Gäste und kommen dann wieder. Das Brot und solche Sachen verwahren wir in einer Speisekammer im Speisesaal. Das ist ganz praktisch.«
Tibbs hielt jetzt ein Geständnis für angebracht. »Als ich kam, machte ich mir gar nicht klar, wieviel Uhr es war. Ich hatte ganz andere Dinge im Kopf. Wie wäre es, wenn ich am Spätnachmittag wiederkomme, wenn Sie nicht so viel zu tun haben?«
»Unsinn«, entgegnete Emily rasch. »Wir haben alle Platz am Tisch und können in Ruhe reden. >Beim Essen kommen einem gute Gedanken<, pflegte mein Vater zu sagen.«
Ganz zu Hause fühlte sich Tibbs noch immer nicht, doch er war dankbar für die herzliche Aufnahme. Er sah zu, wie Emily mit raschen ruhigen Bewegungen den Tisch deckte. Alles, was sie tat, schien ihr leicht von der Hand zu gehen. Sie verschwendete keine Bewegung und war fast fertig, als Tibbs aus dem Fenster blickte und erstarrte.
George und Linda näherten sich dem Haus. Linda mußte wissen, daß er da war, George hatte es ihr sicher erzählt. Trotzdem schritt sie munter neben ihrem Bruder her, allem Anschein nach ganz unbekümmert und völlig unbekleidet, abgesehen von den Sandalen.
In wenigen Sekunden mußte sie die Küche betreten.
Tibbs war befangen in der Erinnerung an das Erbe, das er mitbekommen hatte. Die tiefe Schlucht, die sich als Folge einstiger Knechtschaft zwischen seinem Volk und den Weißen aufgetan hatte, war ihm während seiner Jugend im tiefen Süden täglich mit solchem Nachdruck bewußt geworden, daß der Anblick einer nackten weißen Frau ihm einen Schock versetzte. In Mississippi konnte sich ein Neger schon dadurch verdächtig machen, daß er mit einer Weißen sprach. Der Mordfall Till war durch ein simples Gespräch heraufbeschworen worden.
Linda
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