Totes Zebra zugelaufen
war achtzehn Jahre alt und, wie Tibbs schon festgestellt hatte, gut gebaut. Er hatte sogar die Theorie in Betracht gezogen, der Mord könnte ihretwegen verübt worden sein.
»Da kommen sie ja«, verkündete Forrest.
Tibbs klammerte sich an die Hoffnung, daß sie in einem anderen Raum verschwinden und sich ein Kleid überziehen würde, bevor sie zum Essen erschien. Doch er wußte, daß er sich was vormachte. Sie würde hereinkommen, wie Gott sie schuf.
George hielt seiner Schwester die Tür auf. Sie betrat den Raum mit solch unbefangener Anmut, daß Tibbs aus irgendeinem Grund, den er nicht erklären konnte, an Musik erinnert wurde.
Es war ein strahlender, sonniger Tag, und das Mädchen war schön. Sie hatte nicht die maskenhafte Schönheit eines sorgsam geschminkten Gesichts und kunstvoll frisierten Haares, sondern die einfache Schönheit junger Fraulichkeit, jene Schönheit, die Praxiteles und zahllose andere Künstler in den darauffolgenden vierundzwanzig Jahrhunderten zutiefst bewegt hatte.
Als Tibbs automatisch aufstand, kam sie auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. »Willkommen, Mr. Tibbs. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie Virgil nenne?«
Er wagte ein Lächeln. »Aber nein. Es fällt ein bißchen schwer, hier steife Förmlichkeit zu wahren, nicht?«
Sie lächelte zurück. »Fein. Wollen Sie erzählen, daß Sie den Mörder gefaßt haben?«
Tibbs schüttelte den Kopf. »Ich wollte Sie bitten, mir noch einmal zu helfen.«
Er meinte das »Sie« im Plural; sie faßte es als Singular auf.
»Wunderbar. Mit Vergnügen. Gleich nach dem Essen, wenn Sie wollen.«
Als sie sich umdrehte, um ihrer Mutter zur Hand zu gehen, mußte Tibbs sie einfach ansehen. Das Gleichmaß ihres Körpers war vollendet. Er wäre plötzlich gern Maler gewesen, um diese Ausgewogenheit der Linien festhalten zu können.
Emily Nunn trug das Essen auf, und sie setzten sich an den Tisch. Tibbs empfand erneut das quälende Gefühl, nicht hierher zu gehören. Er nahm seine Serviette und breitete sie verlegen auf seinen Knien aus. Nicht häufig war er bisher im Heim einer weißen Familie zum Essen eingeladen gewesen. Im allgemeinen begnügte er sich zum Mittagessen mit einem Milchmixgetränk und einem belegten Brot. Er war nicht sicher, daß er dieses wesentlich üppigere Mahl bewältigen konnte.
Aber zu seiner Überraschung stellte er fest, daß er hungrig war. Die schmackhafte Hausmannskost, wie er sie so selten vorgesetzt bekam, regte seinen Appetit an. Linda, die ihm gegenübersaß, zog ihn in ein Gespräch über seine Arbeit. Ob es nun absichtlich geschah oder nicht — es löste seine Befangenheit ein wenig, über ein Thema zu sprechen, das ihm so lag. Er antwortete ihr offen, und jeder am Tisch schien ebenso interessiert wie sie.
Schließlich beschloß er, die Nunns wenigstens teilweise ins Vertrauen zu ziehen. »Ich schlage mich bei diesem Fall mit einem schwierigen Problem herum«, erklärte er. »Unter uns gesagt, wir haben den Toten noch nicht identifiziert.«
»Sie meinen, es hat noch niemand den Mann als vermißt gemeldet?« fragte Emily.
»Richtig. Weder aus der näheren noch weiteren Umgebung ist eine Anfrage eingelaufen. Es hat sich überhaupt nichts getan, was mir weiterhelfen könnte. Ich kann Ihnen jetzt verraten, daß der Mann Kontaktlinsen trug. Ich versuchte, den Hersteller und den verschreibenden Arzt ausfindig zu machen, doch das führte zu nichts. Ich bin so dumm wie zuvor.«
»Kontaktlinsen? Aha, das haben Sie mir also verschwiegen«, rief Linda.
»Unter anderem.«
»Wurde eine Obduktion vorgenommen?« erkundigte sich Forrest.
»Ja, aber sie brachte wenig Neues. Ich möchte jetzt nicht näher darauf eingehen, doch ganz allgemein gesprochen ergab der Befund nur das übliche.« Mehr wollte er ihnen nicht berichten. Ausführungen über die Todesursache waren hier überflüssig.
Emily griff nach einer Platte und legte ohne zu fragen noch etwas gebackenen Lachs auf seinen Teller. Tibbs protestierte höflich, doch dann aß er mit Genuß, denn der Fisch schmeckte köstlich.
»Wie können wir Ihnen weiterhelfen?« wollte Forrest wissen.
Tibbs blickte auf. »Ich bin nicht einmal sicher, daß Sie mir überhaupt helfen können«, gestand er. »Ehrlich gesagt, komme ich nur, weil ich hoffe, einen neuen Anhaltspunkt zu finden — irgend etwas, das ich beim erstenmal übersehen habe.« Er hielt inne und schob ein Stück Fisch in den Mund. »Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn es noch einen Hinweis gibt, dann ist es
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