Totgeburt
sich ihr Po auch wieder und nahm Platz auf dessen Gesicht. Sie spürte das Kitzeln seiner Nase und das schlecken seiner Zunge — Menschen waren pawlowsche Hunde. Sie genoss das Gefühl eine Zeitlang, bevor sie sich erneut dem Fernseher widmete.
Die Lektion, die er bei dieser Übung erlernen sollte, lautete, jeden Atemzug wertschätzen zu lernen. Wer das Leben lieben lernen wolle, müsse bereit sein, für jeden Atemzug zu kämpfen, hatte sie ihm erklärt. Marie war sich nicht sicher, ob er wirklich etwas dabei lernte, sie für ihren Teil, genoss es zutiefst. Zumindest sollte er denken, dass er ihr blindlings vertrauen konnte und dass sie, egal wie weit sie in Zukunft auch gehen mochte, ihn nicht sterben lassen würde.
***
Von esoterischen Klängen umschlossen, die nicht halt machten vor Panflöten, Walgesang und Bongos, saßen sie sich gegenüber, nackt wie Gott sie schuf. Als ob die Luft nicht schwer genug unter dem Schall der Hippie-Musik zu tragen hätte, malträtierten sie sie zusätzlich mit Duftkerzen, deren Aromen einer unsichtbaren Wolke gleich umher schwebten. Weil sie kein Lagerfeuer in der Wohnung entzünden konnten, gaben sie sich mit dem Abbild lodernder Flammen, welche auf einem Tablet-Computer simuliert wurden, zufrieden. Zumindest der unter LSD stehende Sebastian war von der Atmosphäre über alle Maße begeistert und lauschte den Worten seiner Priesterin, deren Aura Erhabenheit und Erleuchtung ausstrahlte. Sie war wieder einmal im Begriff, ihn vom Apfel der Erkenntnis kosten zu lassen.
„Alle Indianer und Naturvölker haben ein Ritual, über das sie zu einem Teil der Welt werden. Das ist das große Problem an der westlichen Kultur, die Rituale sind abhanden gekommen. Den Leuten, auch dir, fehlt der Bezug zur Welt. Es reicht nicht aus, geboren zu werden, wir können uns doch gar nicht daran erinnern. Nein, man muss die Geburt rituell wiederholen, man muss den Übergang von der Kindheit zum erwachsenen Leben nachspielen. Teilweise haben die religiösen Gemeinschaften solche Rituale, aber sie ziehen immer auf Massenabfertigung ab … wie im Supermarkt. Im Regenwald, da gibt es einen Stamm von Indios, die genau den richtigen Ansatz verfolgen. Sie ritzen sich mit Messern Muster in die Haut, die aussehen wie die Zahnabdrücke und Bissspuren eines Krokodils.“
„Wow, das hört sich aber schmerzhaft an“, sagte Sebastian.
„Ja, ist es auch. Doch genau darin liegt der Kern der Sache. Das Krokodil, sagen sie, fresse die Menschen, um sie anschließend gereinigt wieder auszuspucken. Das heißt, die Welt frisst sie und spuckt sie dann wieder aus.“
„Das ist wie mit dem Abgrund, den ich gesehen habe. Hey, dann will die Welt gar nicht, dass ich wirklich sterbe!“
„Du hast es verstanden, mein Freund. Das alles findet nur in deinem Kopf statt.“
„Und trotzdem passiert es wirklich. Boah, ist das krass“, sagte der auf Wolken schwebende Sebastian.
„Die Wiedergeborenen nehmen das Leben an, sie lernen das Geschenk zu schätzen. Die kämen niemals auf die hirnverbrannte Idee, sich das Leben zu nehmen. Du hingegen kennst den Wert des Lebens nicht. Anstatt die Geburtsschmerzen nur ein einziges Mal zu durchleben, egal wie schrecklich weh es auch tut, lebst du lieber jeden Tag in der Hölle auf Erden, Junge. Dabei wärst du nach dem Ritual frei vom Weltschmerz und frei vom Zweifel.“
„Ist das wirklich so einfach? Wieso machen die Psychiater das nicht so?“
„Die Psychiater wollen, dass du krank bist. Sonst könnten die sich keine Sportautos finanzieren! Siehst du, du bist voller Zweifel, Mann.“
„Nein, ich glaube dir“, sagte er.
„Ach, nee … dir ist die Sache nicht so wichtig, wie du behauptet hast.“
„Doch ist sie“, sagte er.
„Ja?“
„Ja.“
„Dann schrei es!“, forderte sie.
„Es ist mir wichtig“, sagte er etwas lauter.
„Nochmal!“, schrie sie.
„Es ist mir wichtig!“, schrie er lauthals.
„Nochmal!“, heizte Marie ihn an.
„Es ist mir wichtig!“, schrie er abermals aus voller Kehle.
Eine seltsame Stille machte sich breit, es war einer dieser Momente, wo die Stille selbst zu schreien scheint.
„Jetzt glaube ich dir“, sagte sie zufrieden.
Im Stockwerk unter ihnen schrie plötzlich jemand: „Fresse halten, ihr Drogies! Manche Leute müssen morgen früh arbeiten gehen!“
Ein anderer Nachbar riss die Tür auf und drohte mit der Polizei und der Hausverwaltung. Irgendwo begann ein Baby zu weinen, von draußen kam plötzliches Hundegebell hinzu
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