Totgeburt
merkwürdigsten Ideen und Erwartungen, wie es auf der anderen Seite sein würde.
„Ja, nichts“, wiederholte er seinerseits, sichtlich irritiert, als ob er nicht verstand, was es da nicht zu verstehen gab.
„Ich habe die Nase voll von mir und der Welt … das Leben hat es nie gut mit mir gemeint“, erklärte er. „Die Welt hasst mich und ich weiß nicht wieso. Aber damit habe ich mich bereits abgefunden. Ich denke, dass mit dem Tod alles ein Ende findet und danach ganz einfach nichts mehr passiert.“
„Oh, wenn das so ist“, sagte Marie und plante ihre nächsten Züge.
Ihre Enttäuschung stand ihr wohl ins Gesicht geschrieben, jedenfalls sah er sich dazu genötigt, sich weitreichender zu erklären.
„Also, eigentlich sind das meine alten Gedanken, aus der Zeit bevor ich dich kennengelernt habe … heute sehe ich die Sache natürlich anders.“
„Und wie?“, fragte sie neugierig.
„Kann ich dir ehrlich gesagt gar nicht sagen. Ich mache mir schlicht und ergreifend keine Gedanken mehr“, gestand er nach kurzer Bedenkzeit. „Wir sind hier doch im Scheiß-Egal-Land … das habe ich alles dir zu verdanken“, fügte er grinsend hinzu.
„Dann ist das Problem also nicht aus der Welt“, entgegnete sie und sein Grinsen verschwand sogleich.
„Nein, da hast du wohl recht“, stimmte er zu.
„Man darf die Dinge nicht tot schweigen“, ermahnte sie ihn.
„Vom Denken bekomme ich Kopfweh“, wehrte er sich.
„Ach so. Aber man kann nicht einfach so tun, als gebe es die Probleme nicht.“
„Wieso nicht?“, wollte er wissen.
„Das hat mein Ex-Freund auch immer gesagt“, sagte sie mit aufgesetzter Nachdenklichkeit und er horchte auf. „Was er wohl so tut? Vielleicht hat er sich ja geändert?“, fragte sie in den scheinbar leeren Raum.
„Ich bin bereit, an mir zu arbeiten“, sagte der dumme Junge sogleich. „Ich werde es bestimmt schaffen! Das heißt, falls du bereit bist, mir zu helfen.“
Sie guckte interessiert, dann sagte sie mit ernster Miene: „Du musst es auch wirklich wollen.“
„Ich schwöre, dass ich es wirklich will.“
„Du musst dafür aber über dich selbst hinauswachsen.“
„Ja“, sagte er.
„Und du darfst mich nicht in Frage stellen, egal was ich von dir verlange.“
„Ich verspreche es.“
***
Die Nachrichten fingen an, da wollte sie Ruhe haben. Also zwickte sie ihn in die Brustwarze. Er gehorchte, was sonst? Sie waren dabei die Schulden zu sozialisieren. Es wurde zwar nicht gesagt, aber genau das taten sie. Das war auch gut so, denn Abhängigkeit und Schuld war Grundvoraussetzung jeder Gemeinschaft. Man musste die Leute knechten, ihnen ein Joch aufsetzen, sonst weigerten sie sich mitzumachen.
Marie hörte den Marionetten zu. Sie machten ihre Sache gut, die Einen waren dagegen, die Anderen dafür und jeder schien ein Stück weit recht zu haben. Man wusste nicht, wem zu vertrauen. Die Sache wurde schließlich immer komplizierter und verwirrender, die Fachleute befragten ihre Orakel und widersprachen sich andauernd, bis der Zuschauer, was ein anderes Wort für den Wähler war, nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Dann ließen die Politiker die Sache ruhen.
Unterdessen füllten die Nachrichten die Leere mit Hiobsbotschaften wie jetzt in dieser Sendung und die Märkte brachen ein.
Der Schrecken schien kein Ende zu nehmen, Angst und Sorge wurden alltäglich. Irgendwann stumpften die Leute ab und waren bereit, jede Entscheidung zu akzeptieren. Hauptsache die Politiker fingen überhaupt mal damit an, Beschlüsse zu fassen. Stillschweigend nickte das Volk ab, wogegen es vor einem Jahr noch auf die Barrikaden gegangen wäre.
Während die Tinte der Verträge trocknete, lockerte sich der mediale Würgegriff und die Menschen konnten endlich wieder nach Luft schnappen. Plötzlich war der Vertrag, der die Schuld besiegelte, kein Joch mehr, sondern kam der süßen Freiheit gleich.
Das war keine Zauberei, das war simple Konditionierung.
Sein Finger berührte sie sanft am Hintern. Das war das Zeichen, dass er nicht mehr konnte. Sie hob ihr Gesäß nach oben, gerade soweit, dass er frei atmen konnte — er dankte es ihr. Gierig schnappte er nach Sauerstoff, die Lungen füllten und leerten sich, sodass der gesamte Brustkorb sich aufbäumte und dann wieder zusammenfiel.
„Nicht so gierig. Genug jetzt!“, sagte sie mit strenger Stimme. „Wir sind noch nicht fertig. Noch einmal tief Luft holen, dann geht's wieder weiter.“
Er atmete ein letztes Mal ein, da senkte
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