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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam E. Maas
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fasten und darüber nachdenken, was ich falsch gemacht habe.“
    Der Entzug von Nahrung und Schlaf gepaart mit ständiger Erniedrigung und der mantraartigen Wiederholung bestimmter Formeln war ein beliebtes Mittel der Gehirnwäsche, das sich einige Sekten zu Nutze machten, um ihre Rekruten zu brechen.
    Im Grunde genommen hatte er nichts falsch gemacht, nein, im Grunde genommen hatte er alles richtig gemacht, das hieß, aus moralischer Sicht. Marie kannte das Gesetz, sie lebte nur nicht danach. Sie musste das Gesetz aber kennen, um zu wissen, wie man den Menschen davon abhielt, selbst danach zu leben. Das Gesetz, das waren Spielregeln, Regeln, die die Menschen trennten in die, die ihrem Herrn gehörten und denen, die dem Anderen gehörten.
    Sebastian wollte niemandem schaden. Tief im Inneren begriff er, dass es falsch war. Genau aus diesem Grund ging es ihm auch so schlecht. Er konnte sich nicht seinen Teil des Kuchens erstreiten.
    Niemand hatte von Natur aus Anspruch auf die Welt oder vielmehr hatte jeder Anspruch auf sie. Wie sollte nun entschieden werden, wem was zustand? Man nahm sich einfach das Seine, ohne den Anderen nach dessen Bedürfnissen zu fragen.
    Das Problem hatte sich Sebastian schon in der Schule gestellt, wie sie in einem Gespräch, das zur Reihe Vergangenheitsbewältigung gehörte, erfahren hatte. Das er erfolglos eine Partnerin gesucht hatte lag daran, dass er nicht dominant genug gewesen war. Die erfolgreichen Jungs waren schlicht und ergreifend härter gewesen. Nicht der Sanfte gewann, sondern der Starke. In dem Sozialexperiment, das sich Schule nannte, hatte er lernen müssen, dass Frauen sich einen Beschützer und Ernährer suchten und er hatte bewiesen, dass er nicht in der Lage gewesen war, diese grundlegenden Funktionen zu erfüllen. In seiner Jugend hätte er begreifen müssen, dass es besser war zu gewinnen, als zu verlieren, dass es besser war zu schlagen, als geschlagen zu werden. Er war hingegen vom Gegenteil ausgegangen und deswegen auf der Straße gelandet.
    Die Gesellschaft mochte sich einreden, dass die Lage nicht so ernst war und dass es für jeden genug gab, weil man ständig in wohlgenährte Gesichter blickte. Aber das die meisten Leute — die Mitglieder der Gesellschaft, nicht die Ausgestoßenen — nicht Hunger litten, hing damit zusammen, dass das große Heer der Verlierer dieses Wettstreits ganz weit weg lebte, meistens auf anderen Kontinenten.
    Die Gewinner, die Starken, die Siegreichen nahmen den Hungrigen sogar ihr Essen weg, um es zu Kraftstoff zu verarbeiten — so sehr kämpften sie um den Kuchen und die Krümmel.
    ***
    „Was siehst du, wenn du in den Spiegel schaust?“
    „Mich.“
    „Das ist nicht gerade viel“, sagte sie.
    „Was meinst du?“, fragte er verletzt.
    „Da guckst du schon seit mehreren Minuten in den Spiegel und alles, was du sagen kannst ist ein Wort.“
    Er sah tatsächlich mehr, als das Wort ‚mich‘ ausdrückte. Er sah sich, jung, nackt — nackt, verletzlich, verletzt. Er sah soviel und nichts davon war gut.
    „Ich sehe 'nen Typen“, weiter kam er nicht. Die Kälte ließ ihn wimmern, der Schmerz lähmte seinen Verstand.
    „Soll ich dir sagen, was ich sehe?“, bot sie ihm an.
    Er wollte nicht antworten, weil er zu viel Angst hatte vor dem, was sie wohl sagen würde. Wie konnte jemand etwas gutes in ihm sehen? Niemand hatte jemals gesehen, wer er war. Niemand hatte sich jemals die Zeit genommen, ihn kennenzulernen. Er war alleine. Und der Schlund, das große Biest, fing nun an, an seinem Hirn zu nagen. Zähne wie Messer bohrten sich in seinen Geist. Es drohte ihm wieder. Es würde ihn verschlingen! Ein merkwürdiger, spastisch anmutender Laut verließ seinen Mund.
    „Ich sehe einen Mann, der gekämpft hat … ein Leben lang.“
    Sie gab den Worten Zeit, auf ihn einzuwirken, sie sollten die Leere in ihm füllen.
    „Man sieht die Narben nicht und doch ist er übersät mit ihnen. Du wolltest nur glücklich sein, nicht wahr?“
    „Ja“, stammelte er.
    Er traute sich nicht mehr, in das gespenstische Abbild seiner selbst zu blicken. Im Spiegel stand ein fremdes Wesen, nicht er.
    „Ich sehe jemand wunderschönes neben mir stehen.“
    Hatte er sich verhört? Seine Augen wanderten von seinen Füßen zu denen der schönen, nackten Frau.
    „Sieh mich an … bitte. Du bist wunderschön, Sebastian.“
    Er hatte sich wirklich nicht verhört und sie hatte ihn bei seinem Namen genannt — sie hatte ihn noch nie bei seinem Namen genannt! Schön

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