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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam E. Maas
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gesetzt. „Komm schon“, hatte Sebastian daraufhin entgegnet, „was ist so schlimm an Opium? Wir nehmen es doch jeden Tag.“ Egal, der Typ hatte schon irgendwie recht gehabt. Hoffnung war für die Dummen und Hoffnung ging nicht von Gott aus. Sie war nie als Geschenk gedacht. Sie war ein grausamer Trick, bloß Blendwerk, das den Menschen davon abhielt kollektiv Selbstmord zu begehen. Eine Erfindung des Teufels, der einen so davon abhalten konnte, die Hölle der Erde frühzeitig zu verlassen. Denn die Hölle war hier auf Erden und es war eine Illusion anzunehmen, dass die Hölle eine andere Welt sei. Sie war nicht irgendwo anders oder irgendwann später, sie war hier und jetzt. Die Hölle war in dem Keller, wo er gemartert wurde, sie war auch in den Wohnungen über ihm. Sie alle atmeten den heißen Schwefel ein, nur dass er es merkte, während die Anderen sich pausenlos fragten, warum das Leben so stank. Das hieß, wenn er die Hölle verlassen wollte, musste er einfach loslassen. Er musste also sterben um wegzukommen.
    Nein, nein, nein. Jetzt dachte er wieder irgendwelchen Unsinn. Er hatte sich vorgenommen, an etwas anderes zu denken. Was war das noch mal gewesen? Nicht einfach nur loslassen, das wäre falsch, dann wäre er weg, würde vom Nichts aufgefressen werden …
    Mit dem Blut, das seinen Körper verließ, verließen ihn auch die Erinnerungen an sein altes Leben. Es war kein gutes Leben, zu viele Gedanken und Sorgen. Was für eine Verschwendung! Die Bilder von einst verblassten nun und mit ihnen sein ganzes Ich. Konnte man im Angesicht des Todes stärker werden?
    Da war doch ein Trick. Genau! Er musste unbedingt den Trick beachten. Sterben und dann doch bleiben. Hoffentlich, vergaß er es nicht wieder. Sterben und trotzdem bleiben. Sterben und dann doch bleiben. Im richtigen Moment daran denken. Sterben und trotzdem bleiben. Hoffentlich? Er lächelte gequält, bis er vergaß warum.
    Er hatte keine Angst mehr vor der anderen Seite. Er wusste ja, was ihn erwartete und falls er sich irrte, war es auch egal. Denn was könnte schlimmer sein, als hier zu liegen wie ein aufgeschlitztes Schwein?
    Tat es überhaupt noch weh? Die Schmerzen waren irgendwie weg, oder? Keine Ahnung. Das Brennen war jedenfalls weg. Ja, ihm war ja kalt … irgendwie zu kalt.
    „Lass einfach los. Komm, trau dich“, lockte eine Stimme. „Und jetzt der Trick“, sagte das Gift. „Halt fest an der Welt, bleib hier.“
    Schwarze Träume in die kein Licht trat. Leere Bilder auf weißem Papier, das Nichts, wie es um sich griff. Als für einen Moment nichts passierte und er begriff, dass es ein Nichts gab nach alledem, was er in seinem Leben gesehen, gerochen, geschmeckt, gefühlt, gehört und gedacht hatte — was dann? Es passierte nichts, es passierte alles und das gleichzeitig. Es sprengte die Seele, verkrüppelte den Geist. Er würde es nie begreifen.
    ***
    „Wer bist du?“, fragte eine Stimme — war es seine?
    „Ich bin deine Mutter.“
    „Es ist dunkel hier.“
    „Ich weiß.“
    „Wird es wieder hell?“
    Sie antwortete nicht. Sie streichelte seinen Arm und fuhr ihm durch das Haar. Sie summte. Sie war eine gute Mutter. Sie war da für ihn, einfach nur da. Wo eben noch nichts gewesen war, war sie und sie wachte über ihn. Seine Mutter. Lange Zeit ging es so. Die Fragen waren weg. Alles egal. Hier zu sein war gut. Sie machte weiter. Hoffentlich hörte sie niemals auf. Es war so kalt — er wusste, es würde nie mehr warm werden. Deswegen würde er die Wärme anderer suchen und das Leben der Anderen, um es kaputt zu machen. Halt, welche anderen? Egal, Kopf ausmachen, schlafen …
    „Willst du trinken?“
    „Ja.“
    „Gut so, nicht zu schnell. Immer einen Schluck nach dem anderen. So ist brav.“
    Die trockenen Lippen saugten es auf, die Zunge streckte sich gierig danach aus. Der Schluckreflex setzte ein. Feuchter Nektar floss seine Kehle hinunter. Ungestillter Hunger. Immer mehr. Ein warmer Strom von Leben ergoss sich in ihn. Wie durstig er doch war. Aber je reicher es floss, um so durstiger wurde er. Er könnte schreien vor Verlangen oder war es Glück? Ein und dasselbe.
    Er merkte, wie er zu Kräften kam, er konnte nun seine Hand heben. Die Hand fuhr vor, direkt zum Mund. Er wollte selbst trinken. Sie musste ihn nicht füttern. Er wollte es alleine tun. Es gehörte ihm, nicht der Frau. Immer mehr, immer heftiger saugte er — und er biss und er kaute.
    „Jetzt wirst du aber gierig. Gut so. Ah, nicht ins Plastik beißen.

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