Totgeburt
machen.“
„Und Kaffee?“
„Ah, sehr gut. Die Lebensgeister kehren zurück. Es wird dir an nichts fehlen, Caspar“, sagte sie und öffnete die Haustür.
***
Marie werkelte in der Küche, während er sich im Wohnzimmer umsah. Wie lange würde er wohl hier bleiben? Er wusste nicht, wie sesshaft seine neuen Freunde waren. Marie zum Beispiel hatte viel Zeit mit ihm allein in der Stadtwohnung verbracht. Zumindest eine Zeit lang würde dies seine Bleibe sein. Zufrieden schweifte sein Blick von einer Ecke zur anderen. Das das alles gehörte jetzt ihm!
Innen erinnerte wenig an einen alten Bauernhof. Als erstes stachen ihm die große Leinwand und der Projektor in die Augen, Surround-Sound, eine Couchgruppe aus Leder und eine riesige Filmsammlung, die mehrere Regale in Beschlag nahm. Wie konnte man nur so geil auf bewegte Bilder sein? Alles massiv gebaut, Vollholz, keine Möbel aus Spanplatten, nichts von der Stange.
Aus der Küche drang der Lärm klirrender Töpfe herüber. Es gab da ein Problem, wurde ihm plötzlich bewusst, denn Marie traf noch immer sämtliche Entscheidungen. Sebastian mochte das Gefallen haben, aber Sebastian war auch ein Schwächling gewesen. Sie musste endlich damit aufhören, ihn zu bevormunden und ihn endlich als Ihresgleichen akzeptieren. Wut flammte auf. Er war kein willenloses Ding, dass man mitnahm und irgendwo hinsetzte wie ein Kind oder einen senilen Alten! Was wollte die Familie überhaupt von ihm, was erwarteten sie? Egal, Fragen quälten bloß, während Zorn Tatsachen schaffte. Wut war Macht, Hass feuerte die Wut an. Hass war alles!
Ein Dröhnen machte sich breit, lähmte ihn, näherte ihn, dann hallte eine Stimme durch seinen Kopf, nutzte sein Gehirn als Resonanzobjekt. „Lugalbanda“, sagte sie. Er kannte die Stimme. Es war die Stimme seines Vaters, seines Herrn und Meisters. Sie schmerzte. Er schlug mit der Faust gegen seinen Kopf. Ein grausames Gefühl! Ein großartiges Gefühl!
Was war ein wenig Schmerz im Vergleich zu dem Hochgefühl, dass diese immense Macht nun Teil seines Lebens war? Er hatte sich richtig entschieden, sie würden sie alle töten! Das hatte Marie also gemeint, als sie vom Preis gesprochen hatte. Deswegen war sie so sorglos mit dem Metzger umgegangen. Wer wollte sich schon dem lebendigen Gott in den Weg stellen?
Der Zorn ebbte ab, ihm wurde schwindelig. Marie war seine Schwester, kein Grund ihr wütend zu sein. Der Schmerz ließ nach, der Schwindel verflog und er hörte wieder das Klirren des Geschirrs.
Caspars sah sich weiter um. Ihm stachen die Bilder ins Auge, die an der Wand hingen. Es waren Gemälde, keine billigen Drucke oder eingerahmten Poster. Er mochte Kunst, obwohl er selten begriff, was ein Künstler ihm sagen wollte — Quatsch, Sebastian hatte Kunst gemocht. Er war gerne abgedriftet. Hatte sich in den Welten verloren, die sie schufen. Das taten Künstler, sie schufen Welten.
Seltsam, eines der Bilder hätte strenggenommen gar nicht hier hängen dürfen, sondern irgendwo in Norwegen, in Oslo oder so. Es war Edvard Munchs Schrei. Er kannte das Bild noch aus der Schule, es hatte Sebastian damals in den Bann gezogen. Das Gemälde war ein Stück Menschheitsgeschichte, Kulturerbe. Unbezahlbar, sagte man. Er hatte es noch nie aus der Nähe gesehen. Seine Finger strichen über das Bild, die Nägel kratzten daran. Es war echt, Öl auf Leinwand. Er untersuchte nun die anderen Gemälde. Er las die Signaturen. Auf einem stand Annenkov, andere Unterschriften waren unlesbar und ein anderes war von Picasso signiert. Ein Picasso in dieser Wohnung?
„Wie ich sehe gefällt dir unsere Sammlung“, hörte er auf einmal einen Mann hinter sich sagen.
Der Mitbewohner war aufgetaucht. Caspar drehte sich langsam in dessen Richtung. Er sah einen Mann, Ende dreißig, im Morgenmantel vor sich stehen. Der Mann war groß und von breiter Statur. Sein Haar war zerzaust, er trug einen Dreitagesbart, hatte graue Augen und braunes Haar. Er sah irgendwie matt aus, hatte trockene Haut wie die eines Rauchers oder Trinkers.
„Gefallen sie dir jetzt, oder nicht?“, wiederholte er seine Frage.
„Ja, natürlich. Sind sie echt?“
„Kommt drauf an, was du meinst“, sagte er und ging auf den Picasso zu. „Echte Fälschungen … versteht sich.“
„OK, dachte mir schon, dass die nicht echt sein können.“
„So? Weißt du, wie leicht es ist, an Originale ranzukommen? Museen kommen ständig ihre Werke abhanden. Manchmal muss man sie nur unter den Arm klemmen und aus
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