Totgeburt
„Echt jetzt. Was ist das für einer?“, fragte sie und ging zum hinteren Teil des Autos.
Schnell machte er sich los und trat hinaus in den Regen. Der Sturm hatte sich gelegt, das Gewitter war weitergezogen. Er folgte ihr. Marie stand beim geöffneten Kofferraum und hielt ein paar der Tüten in den Händen. Sie deutete mit einer Kopfbewegung an, dass er das gleiche tun solle, dann ging sie los. Caspar tat es ihr nach.
Das Licht der Straßenlaternen verrann in der Dunkelheit, schien vom schwarzen Asphalt und den grauen Fassaden der Häuser verschluckt zu werden. Sie hatten neben einem Laden halt gemacht, wie die Schaufenster verrieten. In roten Lettern stand auf dem Glas ‚Metzgerei Vogel‘ geschrieben. Sie gingen zur Eingangstür, wo ein dicker Mann im Morgenmantel bereits auf sie wartete. Er hielt die Tür auf, lächelte gequält und blickte nervös die Straße hoch und runter. Wortlos zwängten sie sich an ihm vorbei. Der Laden wurde von einer einzigen schwach brennenden Taschenlampe beleuchtet. Sie luden die Tüten auf dem Tresen ab und kehrten zum Auto zurück, um den Rest zu holen. Während der ganzen Aktion kontrollierte der Dicke die Gegend. Sein Hauptaugenmerk lag auf den Fenstern der gegenüberliegenden Häuserzeile, doch außer dem Klappern der verschlossenen Läden tat sich nicht viel. Er zog die Tür hinter ihnen zu und atmete tief durch.
„Was soll das? Du bist viel zu spät“, schnaufte er Marie an.
„Beruhig dich, Mann. Hat doch keiner was mitbekommen.“
„Ha, so genau kann man das nie wissen. Ich wohne in einem Dorf, weißt du. Wenn die Leute anfangen zu tuscheln, dann, aber nur dann, weiß man, ob jemand was gesehen hat.“
„Lass gut sein, Vogel. Wohin mit dem Fleisch?“
Der Mann starrte auf die Tüten. Die Wut war wie weggeblasen, das Wort ‚Fleisch‘ schien eine magische Wirkung auf ihn zu haben. Weil er immer noch nicht antwortete, schnipste Marie mit den Fingern und da regte der Gigant sich wieder, die Hypnose war verflogen.
„Ja, bring die Tüten ins Hinterzimmer. Wie immer“, sagte er.
„Wir bringen das Fleisch zusammen ins Hinterzimmer … so wie immer. Verstanden, Vogel?“, belehrte ihn Marie.
Seine Augen wanderten vom Tresen über Caspar hin zu ihr, aber er hielt ihrem Blick nicht stand. Er hatte Angst. Ein Mann von gewaltiger Statur, dem offenbar eine Schlachterei gehörte, hatte Angst vor einer kleinen, zierlichen Frau. Caspar grinste und hob die Tüten auf.
***
„Wahnsinn! Scheiße, wie machst du das nur?“, fragte Caspar, als sie wieder im Auto saßen. Er hatte die Sonnenblende aufgeklappt, um über deren Spiegel nach hinten schauen zu können. Er schaute solange zurück, bis das Haus des Metzgers, die Straße, in der er wohnte und das Dorf verschwunden waren.
„Übungssache. Man muss die dreckigen Geheimnisse der Menschen kennen und schon fressen sie dir aus der Hand.“
„Geil! Der Typ sieht nämlich eher wie einer aus, der Frauen schlägt, als sich von einer sagen zu lassen, was er zu tun hat.“
„Ja, so ist er, der alte Vogel.“
Sie lächelten sich zu.
„Oh Mann. Der hatte so 'ne scheiß Angst, der hat ja gar nicht mehr locker gelassen. Wie der geglotzt hat! Was werden die Nachbarn nur denken?“, äffte er den Metzger nach.
„Dein Auftritt war aber auch nicht schlecht“, sagte sie.
„Wie jetzt? Ich hab doch nur rumgestanden und gegrinst.“
„Und wie meinst du, wirkt das auf den Vogel, wenn ich vorbeikomme mit 'nem Typen, der aussieht wie eine Leiche?“
„Huh, so schlimm?“
„Ja. Wie ein scheiß Zombie. Gehiiirn … er hat ja auch viel zu verlieren, der Dicke. Oder was glaubst du, machen die Leute mit einem Typen, der Menschen zerhackt, einfriert und verschwinden lässt?“
Marie lachte, während Caspar dumm vor sich hin lächelte. Etwas war ihm entgangen. Nein, er hatte sich nur gewehrt, es zu akzeptieren. Mit ihm stimmte etwas nicht. Klar, das wusste er ja schon die ganze Zeit, aber jetzt war es offensichtlich.
„Fleisch gehört jetzt zu deinem Leben. Das ist völlig natürlich. Menschen sind Fleisch. Der Metzger Vogel ist auch nur Fleisch.“
Sie machte eine kurze Pause, anscheinend genoss sie sein Dilemma.
„Keine Angst, du wirst dich schneller damit anfreunden, als du glaubst. Bald schon verstehst du nicht mehr, wie du jemals hattest anders denken können. Ich hab's dir ja gesagt, da steckt noch zu viel von früher in dir. Bis das alles aus dem Weg geräumt ist, dauert's halt. Mach dir keine Illusionen darüber, wer
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