Totgeburt
Menschenfleisch?“, fragte er.
„Hm, das ist was anderes“, sagte sie grinsend.
Er hatte richtig gelegen. Sie hatte sich kaum zurückhalten können, als sie ihn gebissen hatte. Menschenblut und Menschenfleisch machten sie also glücklich.
„Über die Sache müssen wir noch reden“, meinte sie.
„OK. Wir lachen viel“, entgegnete er.
„Was hast du auf einmal gegen Lachen? Wir sind keine Taliban. Lach ruhig, geh ins Kino, schlag einen Penner zusammen. Humor und Arbeit sind unsere Erlösung. Keine Ahnung, wie es bei dir aussieht, aber mein Leben kommt mir wie eine Achterbahnfahrt vor und zwar wie eine auf der längsten der Welt. Hey, wart's ab, am Anfang sieht man die richtig guten Seiten noch nicht. Und plötzlich merkst du, dass du mitten in einem Looping steckst, Adrenalin pumpt in dein Blut und —“
Sie stoppte mitten im Satz, schaute grimmig, riss ihm den Topf aus der Hand und trocknete ihn ab. Den Rest des Geschirrs spülten sie dann wortlos.
***
Als sie mit dem Abwasch fertig waren, kam Dennis in die Küche. Er informierte sie, dass er das Auto, in dem sie angereist waren, zum Schrottplatz fahren wolle und danach noch ein paar andere Dinge regeln müsse. Auch Marie kündigte ihren Abgang an, sie müsse Geld eintreiben gehen, erklärte sie. Der Urlaub sei offiziell zu Ende, das Arbeitsleben habe sie wieder.
Marie war dabei, Schritt für Schritt in ihr altes Leben abzutauchen. Caspar war neidisch auf die Zwei: während er in der Luft hing, wussten sie, was sie zu tun hatten. Wann hatte Marie das alles geplant? Sie war immer bei ihm gewesen. Handelten sie etwa spontan? Mit Sicherheit nicht. Nein, da war etwas in der Luft, ein großer Plan mit festen Wegen, denen sie folgen konnten. Ein riesiges Spinnennetz aus unsichtbaren Fäden, das sich all die kleinen Spinnen teilten. Wie viele Spinnen gab es überhaupt? Und wieso kam er sich bloß wie ein Besucher im Spinnennetz vor?
Marie nahm ihn mit nach oben und zeigte ihm sein Zimmer. Auf die Gefahr hin, sich wie seine Mutter anzuhören, riet sie ihm dennoch, dass er sich ausruhen solle, um die Heilung zu beschleunigen. Außerdem hätten sie und Dennis vor, länger weg zu bleiben. Er solle sie nicht vor dem späten Abend oder dem frühen Morgen zurückerwarten. Er könne sich das Haus ansehen, es sei schließlich auch seines, und das Gelände erkunden. Ging er auf Entdeckungstour, solle er doch bitte innerhalb der Grundstücksgrenzen bleiben und versuchen keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zombies seien ein ungewohnter Anblick für die Einheimischen und die Leute seien leider ziemlich neugierig, auch wenn sie das Grundstück selbst mieden. Manchmal gingen Wanderer die Grenzen entlang und riskierten verstohlene Blicke auf die fremde Welt des Hofes. Ein richtig frecher Haufen sei das. Marie musterte ihn von oben bis unten, lachte kurz auf und drückte ihm einen Zettel mit Telefonnummern in die Hand.
Als er schließlich alleine war, suchte Caspar einen Spiegel. Er vermutete und fand ihn in Maries Zimmer. Beim Eintreten fiel sein Blick auf das Bett, wo ein kleiner Koffer mit geöffnetem Deckel lag. Er war gefüllt mit Spielzeug. Caspar fühlte sich beim Anblick eines Knebels unweigerlich in den Keller zurückversetzt. Einen ähnlichen hatte er ja stundenlang im Mund stecken gehabt. Er lächelte. Wieso fand er das lustig? Irritiert von seiner Reaktion, schaute er in den Spiegel. Er sah wirklich wie ein Zombie aus. Ganz leblos. Blasse Haut, die Augen untermalt von dunklen Ringen und das Gesicht voller kleiner Kratzer. Das große Pflaster, das seine Halsverletzung verdeckte, war rot angelaufen. Er sah tief in seine Augen, die ihm einst matt und leer erschienen waren. Von ihnen ging jetzt ein kräftiges Funkeln aus. Erkannte er sich wieder? Ja, vielleicht. Es waren jedenfalls nicht die Augen einer Leiche. Oh nein, es waren die Augen eines Mannes, der den Tod überwunden hatte. Nicht viele konnten das von sich behaupten. Er hatte den Tod besiegt, er war auserwählt worden.
Die letzte Nacht spulte sich in seinem Kopf ab, es war ein kurzer und bizarrer Film. Natürlich hatte der dicke Metzger Angst gehabt. Er erinnerte sich daran, wie entsetzt er ihn angestarrt und danach jeden Blickkontakt vermieden hatte. Caspar fuhr mit der Hand die Umrisse seines Gesichts ab. Sein Gehirn weigerte sich krampfhaft einzusehen, dass es einen neuen Besitzer hatte. Im Spiegel stand ein Fremder, der auf den Friedhof gehörte. Es war ein toter Körper, richtig widerlich.
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