Totgeglaubt
mehr sehen konnte, hielt sie auf dem Seitenstreifen an und starrte in die Finsternis. Clay begann, sich zu öffnen und an ihre Beziehung zu glauben.
Hatte sie ihm vorschnell und unüberlegt Versprechungen und Zusicherungen gemacht, nur um ihm Hoffnung zu geben?
Der Gedanke erschreckte sie. Er hatte sein Leben auf seine sehr spezielle Weise gelebt, weil es für ihn die einzige Möglichkeit war, es zu ertragen. Sie hatte kein Recht, die Dinge durcheinanderzuwirbeln und ihn verletzlich zu machen.
Und dennoch: Sie verdienten doch wohl, dass sie für ihre Gefühle kämpften, oder nicht?
Allie holte tief Luft, startete den Motor und fuhr nach Hause. Jetzt konnte sie ohnehin nichts mehr ändern. Sie hing schon viel zu sehr an Clay, um es auch nur zu versuchen.
Zu Hause huschte sie in ihr Zimmer und schlüpfte ins Bett, wo Whitney sich eingekuschelt hatte und selig schlummerte.
Allie war froh, sie bei sich zu haben. Sie brauchte jetzt die Nähe ihrer Tochter. Sanft küsste sie sie auf die Schläfe.
“Ich hab dich lieb”, flüsterte sie, als das Mädchen sich im Schlaf bewegte. Sie hoffte inständig, dass es die richtige Entscheidung war, Whitney in ihre Beziehung zu Clay einzubeziehen.
21. KAPITEL
W ar das nicht die Stimme ihres Vaters?
“Oh, nein, bitte das nicht auch noch!”, stöhnte sie, rollte sich auf den Bauch und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen. Aber die hitzigen Stimmen ihrer Eltern drangen trotzdem noch bis zu ihr durch. Sie mussten in der Küche sein. Allie wusste, dass sie aufstehen und den Streit schlichten musste, wenn sie verhindern wollte, dass ihre Tochter ein paar hässliche Szenen mitbekam. Denn Whitney musste ebenfalls in der Küche sein. Im Bett war sie jedenfalls nicht.
Also zog sich Allie ihren Morgenmantel über und sah nach dem Rechten. Ihre Mutter, ebenfalls im Morgenmantel, lehnte mit verschränkten Armen am Küchentresen; ihr Vater stand Evelyn in Polizeiuniform gegenüber. Laut Grace hatte die Stadt Chief McCormick die offiziellen Entlassungspapiere bereits ausgehändigt. Er würde seine Uniform nicht mehr lange tragen.
Allie fragte sich, was er jetzt wohl vorhatte, und fühlte fast so etwas wie Mitleid.
Manche Menschen rasen auf eine Mauer zu und schaffen es einfach nicht, ihr auszuweichen.
Dem stimmte sie zu, und trotzdem fand sie es schwierig, Verständnis für ihren Vater aufzubringen. Vielleicht lag das daran, dass Dale sich selbst immer als eine Art Vorbild verstanden hatte, und dass deshalb sein Fehlverhalten – für sich genommen schon erschütternd genug – noch schwerer ins Gewicht fiel.
“Ob ich es wohl schaffe, euch beide davon zu überzeugen, ein paarmal zusammen um den Block zu fahren?”, fragte sie und nickte vielsagend zu Whitney hinüber, die eine Müslischüssel leerte und ihre Großeltern dabei mit großen Augen anstarrte.
“Fahrt nicht weg”, bat Whitney. “Ich möchte zuhören.”
Allie blickte ihre Mutter vorwurfsvoll an.
“Nicht nötig”, sagte diese. “Dein Vater wollte sowieso gerade gehen.”
“Nein, wollte ich nicht”, widersprach er, “ich bin gerade erst gekommen.”
Evelyn stand stocksteif da. “Ich will aber, dass du gehst.”
Dale stieß einen tiefen Seufzer aus. “Irgendwann wirst du mit mir reden müssen, Evelyn. Ob es dir gefällt oder nicht, du bist immer noch meine Frau.”
“Nicht mehr lange.”
Die Heftigkeit ihrer Antwort schien ihn niederzuschmettern. “Bitte … ich … ich weiß, dass du zu Recht wütend und enttäuscht bist, aber hör mich doch bitte wenigstens an.”
Allie ertrug es kaum, ihren selbstsicheren Vater plötzlich so gedemütigt zu sehen. Aber er hatte es sich selbst eingebrockt. Sie konnte ihm nicht helfen. Und momentan
wollte
sie ihm auch nicht helfen. Oder doch? Ach, es war alles so verworren.
“Was gibt es denn noch zu sagen?”, fragte Evelyn.
“Es tut mir leid. Das will ich dir schon sagen, seit …”, er blickte nervös zu Whitney hinüber, “… seit du es herausgefunden hast. Aber du hast mich nicht zu Wort kommen lassen.”
“Und du glaubst, das reicht?”, staunte Evelyn. “
Es tut mir leid?”
Zum ersten Mal verriet ihr Gesichtsausdruck, wie tief getroffen sie wirklich war. “Wir haben vierzig Jahr zusammengelebt, Dale. Vierzig Jahre, die du weggeworfen hast für …”
“Mom!”, unterbrach Allie, aus Angst vor dem Ende des Satzes. “Könnt ihr nicht wenigstens vor die Tür gehen? Wenn ihr euch sonst nichts mehr zu sagen habt, dann besprecht doch, wie ihr euer
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