Totgeglaubt
hatten Zugang zum Schlüssel. “Das könnte jeder gewesen sein”, wandte Allie ein.
“Nein. Hendricks ist der Einzige, der alleine arbeitet. Ich wette, dass er es war.”
“Aber warum sollte er Clay töten wollen?”
“Vielleicht wollte er ihn nicht töten”, erwiderte Dale. “Vielleicht brauchte er nur Geld, um die ersten Raten seines neuen Trucks zu bezahlen.”
“Fährt er einen?”
“Einen nagelneuen. Ich hab ihn vorhin gesehen.”
Allie wartete ungeduldig, dass Madeline ans Telefon ging.
Beim vierten Klingeln nahm Clays Stiefschwester endlich ab. “
Stillwater Independent.”
“Maddy?”
“Ja?”
“Hier ist Allie.”
“Was ist los, Allie?”
“Hat die Belohnung, die du ausgesetzt hast, schon irgendwas ergeben?”
“Nein.”
“Nichts?”
“Gar nichts. Ich hätte dich doch sonst sofort angerufen. Wieso fragst du?”
Allie seufzte. “Ich war nur neugierig.”
Es entstand eine kleine Pause. “Es tut mir leid”, sagte Madeline schließlich.
“Es tut uns allen leid”, erwiderte Allie.
Hendricks’ Haus war nicht nur entsetzlich unordentlich und schmutzig, sondern stank auch fürchterlich. Fast hätte Allie Hendricks’ Frau Colleen hinterhergerufen, dass sie sich lieber im Vorgarten unterhalten würde, als diese ihren Mann holen ging.
Im Wohnzimmer zu Allies Linken lümmelten ein etwa fünfzehnjähriger Junge und ein gleichaltriges Mädchen auf der abgewetzten orangefarbenen Couch und spielten Videospiele. Es war bereits früher Nachmittag, doch sie trugen immer noch T-Shirts und Pyjamahosen und hatten zerzauste ungekämmte Haare. Zu Allies Rechten kramte ein Kleinkind, das nichts außer einer tief hängenden, übervollen Windel trug, in den Küchenschränken, zog diverse Müslischachteln hervor und futterte, was ihm gerade so in die Hände fiel.
Die Treppenstufen knarzten. Allie, die kaum mit ansehen konnte, wie das Kleinkind irgendetwas vom Boden aufhob und sich in den Mund stopfte, blickte auf und sah Colleen die Treppe wieder herunterkommen. “Er sagt, dass er Sie später anruft, wenn er aufgestanden ist. Er ist erschöpft. Sie wissen, wie das ist mit den Nachtschichten.”
Allie zögerte. Sie war nahe dran, darauf zu bestehen, jetzt und hier mit ihm zu sprechen. Nach allem, was geschehen war, brannte sie einfach auf Antworten. Aber dann überlegte sie, dass es klüger wäre, sich erst die Videoaufzeichnungen der Tankstelle zu beschaffen und durchzusehen. Sie hätte ein viel stärkeres Druckmittel, wenn Hendricks deutlich darauf zu erkennen wäre. “Kein Problem”, sagte sie. “Ich gebe Ihnen meine Nummer.”
Es dauerte eine Weile, bis Colleen die Schubladen im Wohnzimmer und in der Küche durchgekramt hatte, aber schließlich tauchte sie mit Stift und Zettel auf und notierte sich Allies Nummer.
“Was macht die Schnittwunde an der Hand Ihres Mannes?”, fragte Allie auf dem Weg zur Haustür.
Colleen schüttelte den Kopf. “Sie verheilt gut, musste aber mit sechs Stichen genäht werden.”
Allie hielt den Atem an. Sie hatte geblufft – und Colleen hatte angebissen. “Das habe ich schon gehört”, meinte sie mitfühlend. “Wie ist es denn überhaupt passiert?”
“Bei der Arbeit.”
“Auf dem Revier oder …”
Sie musste ein bisschen zu eifrig geklungen haben, denn Colleens vertrauensvolles gutgläubiges Lächeln verschwand und machte einem misstrauischen Ausdruck Platz. “Ich weiß es nicht. Am besten fragen Sie ihn selbst.”
“Das mache ich.” Allie trat in den Vorgarten und deutete auf den nagelneuen Ford F-150, der auf der unkrautüberwucherten Einfahrt stand. “Toller Truck. Vielleicht kann ich mir ja irgendwann auch mal so einen leisten.”
“Ja, ein schönes Auto, aber ich mache mir ein bisschen Sorgen über die Rückzahlung.”
“Ein Kreditkauf?”, fragte Allie.
“Natürlich”, antwortete Colleen, bevor sie die Tür mit Nachdruck zuschlug.
“Hast du es?”, fragte Clay.
Allie nahm den Hörer ans andere Ohr und schaute auf das Videoband, das auf dem Beifahrersitz lag. “Ja, ich hab’s.”
“Und was ist zu sehen?”
Sie hörte an seinem vorsichtigen Ton, wie sehr er versuchte, seine Erwartungen herunterzuschrauben. “Das Band ist alt und die Aufnahme unscharf”, sagte sie. “Aber man kann einen korpulenten Mann erkennen, der Pflaster kauft. Er wirkt sehr nervös und trägt eine Baseballkappe.”
“Eine rote?”
“Das Video ist schwarz-weiß. Aber es ist nicht Jeds Kappe, wenn du das meinst. Sie hat einen anderen
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