Totgeglaubt
und Allie konnte kaum mitansehen, wie er sich quälte. “Vielleicht solltest du die Diät etwas lockern.”
Ihre Mutter schüttelte nachdrücklich den Kopf. “Das kann ich nicht. Der Doktor sagt, wenn er nicht aufpasst, besteht die Gefahr eines Herzinfarkts. Er könnte sogar einen Gehirnschlag bekommen.”
“Zum Glück hat er dich”, sagte Allie.
“Wir riskieren, ihn zu verlieren, wenn wir nicht auf ihn aufpassen.” Genau, wie sie es früher gemacht hatte, als Allie klein war, strich Evelyn ihrer Tochter eine Haarsträhne hinters Ohr. “Dein Vater und ich sind seit vierzig Jahren zusammen. Schwer vorstellbar, was? Wo sind nur die ganzen Jahre geblieben?”
Allie drückte ihre Wange gegen die Handfläche ihrer Mutter. “Danke, dass ich wieder nach Hause ziehen durfte.”
Evelyn senkte ihre Stimme, weil sie Whitney unten im Flur singen und hüpfen hören konnten. “Du hättest uns viel früher erzählen sollen, was dich alles belastet hat.”
“Ich hatte gehofft, die Medikamente würden ihm helfen, seine Stimmungen in den Griff zu bekommen. Was ja ansatzweise auch der Fall war. Ich hätte mit seinen Hochs und Tiefs sogar leben können, wenn er Whitney nur ein klein wenig lieb gehabt hätte.”
“Er war einfach zu …” Whitney kam ins Zimmer, sodass Evelyn ihren Satz mit einem simplen “egoistisch” beendete.
Allies Tochter hatte ein schokoladenverschmiertes Gesicht und grinste von einem Ohr zum anderen. “Boppo macht die allerbesten Kekse. Ich bin froh, dass wir hier wohnen!”
Ihren Vater schien Whitney nicht zu vermissen. Und so, wie Sam seine Tochter behandelt hatte, wunderte sich Allie auch nicht sonderlich darüber. “Ich bin auch froh, Schätzchen.”
“Da sind wir ja schon drei.” Evelyn griff nach Allies leerem Teller. “Los, Whitney. Wir lassen deine Mommy kurz ein bisschen schlafen.”
Whitney antwortete nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt, das Bett und den Fußboden abzusuchen. “Wo ist es?”, fragte sie enttäuscht. “Wohin ist es verschwunden?”
Allie hatte sich zurück in die Kissen fallen lassen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, aufzustehen und ihrer Tochter bei den Hausaufgaben zu helfen. Aber jetzt sehnte sie sich danach, noch eine Viertelstunde liegen zu bleiben. “Wohin ist was verschwunden?”, fragte sie, in Gedanken bereits bei dem Plakatkarton, den Whitney für ein Schulprojekt brauchte.
“Das Foto”, quakte Whitney.
“Welches Fotos?”, fragte Evelyn.
“Das von dem nackten Mann. Das, das Mommy bei ihrer Arbeit gemacht hat.”
Allie spürte den Blick ihrer Mutter auf sich, tat aber so, als würde sie nicht zuhören.
“Allie?”, hakte ihre Mutter nach.
“Nur noch ein paar Minuten, ja?”, murmelte Allie und stellte sich schlafend.
“Mommy”, hob Whitney an, aber zu Allies großer Erleichterung versprach Evelyn ihrer Enkelin, Onkel Daniel in Florida anrufen zu dürfen, und lockte sie so aus dem Zimmer.
“Kann ich dann auch mit Tante Jamie sprechen?”, wollte Whitney wissen.
“Mal sehen”, entgegnete Evelyn. “Vielleicht.”
Sobald sie den Raum verlassen hatten, zog Allie Clays Foto unter der Matratze hervor, um es wieder in die Akte zu legen. Es gab keinen Grund, sich für das Foto zu schämen. Es war Teil ihrer Arbeit, nichts weiter. Und trotzdem verzauberten sie diese unergründlichen blauen Augen.
War er ein Mörder? Ein Komplize? Oder nur ein willkommener Sündenbock?
Sie hatte keine Ahnung. Sie wusste nur, dass er der attraktivste Mann war, den sie je gesehen hatte.
Mit einem leisen Fluch schob sie das Foto zurück unter die Matratze, weil sie nicht wollte, dass ihre Mutter oder Whitney sie damit aus dem Zimmer kommen sahen. Dann zwang sie sich aufzustehen.
In der Nacht regnete es, und die warme Erde dampfte. Clay stand am Schlafzimmerfenster, beobachtete das Schauspiel und lauschte dem Wind, der die Zweige der Bäume gegen das Haus peitschte. Der tosende Sturm verstärkte sein Gefühl, einsam und isoliert zu sein. Aber er erinnerte ihn auch daran, dass die Jahreszeiten wechselten und das Leben weiterging – sosehr er sich auch in der Vergangenheit gefangen fühlte.
Das Telefon klingelte. Clay hatte fast den ganzen Tag gepflügt und danach das Dach des Schuppens hinter der Scheune ausgebessert. Sein Rücken tat weh, weil er das schwere Material die Leiter hinaufbefördert und sich über jeden Dachziegel einzeln gebeugt hatte, um ihn festzuklopfen. Er wollte nur noch ins Bett. Doch obwohl er so müde war, ging er zum
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