Totgeglaubt
Ehemänner hatten sie schlecht behandelt, Dale hingegen überhäufte sie mit Aufmerksamkeit und Geschenken.
“Mom, wenn Allie von deiner Affäre mit ihrem Vater erfährt, wird sie erst recht versuchen, zu beweisen, dass wir für Barkers Tod verantwortlich sind. Besser könnte sie sich nicht rächen …”
Kaffeeduft erfüllte den Raum. “Dale und ich haben uns nicht mehr gesehen, seit Allie wieder hier ist”, murmelte Irene.
Clay sah sie forschend an. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sagte sie die Wahrheit. “Das ist gut. Aber du hoffst, dass ihr euch wieder trefft, sobald ihr eine Gelegenheit habt, stimmt’s?”
“Nein.”
Diesmal glaubte er ihr nicht. Er wusste, dass sich eine Affäre wie diese, wenn sie nicht offiziell beendet wurde, über Jahre hinziehen konnte. “Du musst ihm sagen, dass du dich nicht mehr mit ihm treffen kannst.”
Tränen traten Irene in die Augen, und sie kam auf ihren Sohn zu. Als er sie weinen sah, wünschte er, er könnte ihr einfach sagen, dass alles wieder gut werden würde. Aber das ging nicht. Sollte Chief McCormick seine Frau wegen Irene verlassen, dann würde die ganze Stadt hinter ihr her sein. Irene war ohnehin nie allzu beliebt gewesen, was sie ihrem Mann, dem Reverend, zu verdanken hatte: Der hatte sie nämlich regelrecht isoliert, hatte ihr nicht gestattet, sich bei anderen als kirchlichen Anlässen blicken zu lassen. Und er hatte bei jeder Gelegenheit beklagt, dass die Heirat mit ihr ein Fehler gewesen wäre. Dass er nun mit einer flatterhaften, faulen, eingebildeten Frau zusammenleben müsste, die eine einzige Last für ihn darstellte. Bisweilen hatte er sie sogar in spitzfindiger, entwürdigender Weise direkt von der Kanzel herab kritisiert. Und seine Gemeinde hatte ihm jedes Wort abgekauft. Schließlich war er in Stillwater verwurzelt, hatte eine Familie und Freunde, besaß Land und war von der trügerischen Aura der Reinheit umgeben. Irene hingegen besaß gar nichts – außer der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Eine Hoffnung, die der Mann mit der frommen Maske schnell zerstörte.
Niemand kannte diesen Mann. Niemand kannte ihn so, wie die Montgomerys ihn kannten.
“Es tut mir leid”, sagte Clay mit weicher Stimme. “Du hast keine Wahl. Das weißt du doch, oder?”
Sie wischte die Tränen weg, die ihr über die Wangen liefen. “Ja.”
3. KAPITEL
“M ommy … Mommy …”
Die Stimme ihrer Tochter und das Kitzeln der kleinen Hand an ihrer Schulter drangen wie durch eine Nebelwand zu Allie durch und weckten sie aus ihrem Nachmittagsschlaf. Sie war immer noch müde. Sie war erst vor fünf Stunden ins Bett gegangen, nachdem sie Whitney von der Schule abgeholt hatte – und es fiel ihr schwer, die Augen aufzubekommen. Sie wollte so viel und oft wie möglich für ihr Kind da sein. Deshalb war sie nach Stillwater zurückgezogen und hatte die Nachtschichten und eine ziemliche Gehaltseinbuße in Kauf genommen.
“Wer ist das?”, fragte Whitney.
Allie blinzelte, um in dem Lichtstrahl, der durch einen Spalt in der Jalousie hereinfiel, den Gegenstand zu erkennen, den ihre Tochter ihr vor die Nase hielt. “Was hast du da, meine Süße?”
“Ein Bild”, sagte sie und hatte ein paar nachdenkliche Falten auf ihrem weichen runden Gesicht.
“Von wem?”
“Von einem Mann.”
Allies bleierne Müdigkeit war im Nu verflogen, als ihr klar wurde, dass ihre Tochter ein Foto von Clay Montgomery in den Händen hielt. Allie hatte sich seine Akte mit nach Hause genommen, um das Protokoll fertigzuschreiben. Whitney musste in der Kiste aus dem Büro herumgestöbert haben.
“Den kennst du nicht”, antwortete Allie beiläufig.
Ihre Tochter rümpfte die Nase. “Warum ist er nackt?”
Allie hätte wahrscheinlich über Whitneys demonstrative Empörung geschmunzelt, wenn sie sich nicht so auf Clays Körper konzentriert hätte, als sie ihr das Foto aus der Hand nahm. “Er hat doch eine Jeans an.”
Whitney war noch skeptisch. “Die sehe ich aber nicht.”
Allie schaute nach, ob am unteren Rand des Fotos der Bund einer Jeans zu erkennen war. “Die ist nicht mit aufs Foto gekommen, aber sie ist da.”
Ihre Tochter musterte Clay immer noch. “Warum lächelt er nicht?”
“Er ist niemand, der oft lacht.” Allie musste an das aufreizende Grinsen denken, mit dem er ihre Aufforderung quittiert hatte, sein T-Shirt auszuziehen.
Nach Ihnen.
“Jedenfalls nicht sehr oft.” Und das ist wahrscheinlich ein Glück, dachte sie im Stillen, denn
wenn
er lacht, dann ist
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