Totgeglaubt
er ziemlich hinreißend.
“Willst du es auf den Kühlschrank stellen, neben das Foto von mir?”
Allie wollte nicht wissen, was ihre Eltern denken würden, wenn sie bei jedem Griff nach der Milchflasche Clay Montgomerys nackten Oberkörper sehen müssten. “Nein, Süße. Ich hab das Foto nur hier, weil ich es für meine Arbeit brauche.”
In der Hoffnung, die Aufmerksamkeit ihrer Tochter von Clays Foto abzulenken, fragte sie: “Wo ist Boppo?” So nannte Whitney ihre Großmutter.
“In der Küche. Sie macht mir etwas zu essen. Sie hat gesagt, ich soll dich nicht stören, aber ich wollte dir kurz Hallo sagen.”
Allie zog ihre Tochter an sich. “Du kannst jederzeit zu mir kommen und Hallo sagen.”
Wie immer erwiderte Whitney ihre Umarmung überschwänglich. Sie war so verschmust und liebevoll, dass Allie einfach nicht begreifen konnte, wie ihr Exmann seinem Kind gegenüber so feindselig sein und so mit seiner Vaterrolle hadern konnte. Sein Verhalten Whitney gegenüber war ihr ein absolutes Rätsel. “Du wirst langsam groß, stimmt’s?”
“Ich bin nicht mehr im Kindergarten”, sagte Whitney stolz.
Aber damit hatte sich die Wirkung des Ablenkungsmanövers auch schon erschöpft. Sobald Allie sie losließ, beugte Whitney ihren Blondschopf erneut über Clays Foto. “Ist das ein böser Mann?”
Allie glaubte das zwar nicht, aber seinem Ruf nach war er auch nicht gerade die reine Unschuld. Es gab eine Menge offener Fragen rund um den Fall Barker – Fragen, die zu beantworten er bislang nicht bereit gewesen war. “Nein. Ich habe das Foto gemacht, um zu zeigen, dass er keine Wunden auf seinem Körper hat, die von irgendeinem Kampf stammen könnten.”
“Oh”, meinte Whitney, als wären damit alle Unklarheiten beseitigt.
Bevor ihre Tochter ihr eine neue Frage über Clay stellen konnte, hörte Allie erleichtert die Schritte ihrer Mutter im Flur. Und als Whitney erwartungsvoll Richtung Tür blickte, schob Allie das Foto schnell zwischen die Matratze und den Deckel der Kiste. Sie hatte dieses und die anderen Fotos gemacht, um die Wahrheit zu dokumentieren, aber sie wusste, dass es in Stillwater nicht begrüßt werden würde, Clay in Schutz zu nehmen – selbst im Hause ihrer Eltern, und selbst, wenn es im Dienste der Wahrheit geschah.
“Wie geht’s dir?”, fragte Evelyn, als sie ins Zimmer kam.
“Aber Boppo, ich wollte doch Kekse haben”, beschwerte sich Whitney, als sie den Teller mit Sandwiches und Chips sah. “Ich habe doch schon zu Mittag gegessen!”
“Das ist für deine Mommy. Deine Kekse sind in der Küche.”
“Oh!”
Evelyn schmunzelte, als Whitney an ihr vorbeisauste, dann reichte sie Allie den Teller.
Allie hätte sich nie träumen lassen, je wieder zu ihren Eltern zu ziehen. Nicht mit dreiunddreißig und einem eigenen Kind. Sie fand es peinlich, vielleicht sogar etwas demütigend, sich dort wiederzufinden. Niemand fühlte sich gern wie ein Versager. Aber Dale und Evelyn besaßen ein 270-Quadratmeter-Haus auf einem Grundstück von fast zwei Hektar Größe. Es machte keinen Sinn, für einen weiteren Haushalt zu bezahlen, wenn die beiden so viel Platz hatten. Besonders, weil das Zusammenleben mit den Großeltern für Whitney bedeutete, dass sie in ihrem eigenen Bett schlafen konnte, während Allie bei der Arbeit war. Dale und Evelyn hatten ein Gästehaus ein Stück weiter hangabwärts, in der Nähe des Teichs. Allie hätte auch dort einziehen können – und würde es wohl zur Not auch tun –, doch bislang gefiel es ihr, bei ihren Eltern zu wohnen. Die letzten sechs Jahre ihrer zehnjährigen Ehe waren besonders hart gewesen. Das Leben in ihrer eigenen privaten Hölle hatte Allie dankbar für die Liebe ihrer Eltern gemacht. “Danke, Mom.”
“Keine Ursache. Wie war deine Nachtschicht?”
“Interessant.” Sie schob die Bettdecke weg. Es war erst Mitte Mai, aber die Schwüle des Sommers war bereits zu spüren.
Ihre Mutter lächelte. “Interessant?”, fragte sie mit gespielter Überraschung. “Hast du einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung ausgestellt? Oder jemanden mit abgelaufenem Kennzeichen erwischt?”
Offensichtlich hatte ihr Vater noch nichts mitbekommen von den Ereignissen der letzten Nacht. Zumindest hatte er Evelyn nicht deswegen angerufen. Trotzdem wollte Allie nicht darüber reden. Sie hatte ihre Mutter schon öfter über Clay Montgomery sprechen hören und wusste, dass sie in jedem Fall Beth Anns Version glauben würde. Allie hatte keine Lust, in
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