Totgeglaubt
managt. Wieso fragst du? Bist du eifersüchtig?”
“Nein.” Er suchte sich eine Jeans heraus. “Ich dachte, das ist Joes Job?”
“Nominell. Aber eigentlich macht er nicht viel anderes, als Frauen anzubaggern und in Kneipen herumzusitzen, zumindest seit seiner Scheidung von Cindy. John ist derjenige, der den Betrieb am Laufen hält.”
Wenn Madeline das sagte, dann stimmte es wahrscheinlich. Niemand kannte Stillwater und seine Bewohner besser als sie. Es war ihr Job, sich auszukennen, schließlich war sie Chefredakteurin beim
Stillwater Independent.
Mehr noch: Die Zeitung gehörte ihr. Sie hatte sie gekauft, als sich die ursprünglichen Besitzer zur Ruhe setzten.
“Der gute alte Joe”, murmelte Clay, während er sich seine Hose anzog.
“Ja, ich weiß. Er ist nicht dein Liebling.”
“Das ist eine leichte Untertreibung.” Joe hatte die letzte Durchsuchung der Farm initiiert. Und er hatte Grace schlecht behandelt. Clay ahnte zwar, dass er nicht die ganze Geschichte kannte, und er bezweifelte, dass Grace sie ihm jemals erzählen würde. Aber er vermutete, dass bereits auf der Highschool etwas zwischen Joe und seiner Schwester vorgefallen war, möglicherweise etwas Sexuelles. Er konnte Grace keinen Vorwurf machen – nicht nach all dem, was sie durchgemacht hatte. Barker hatte sie fast kaputt gemacht. Und sie hatte wohl immer wieder versucht, ein für alle Mal loszuwerden, was ihr angetan worden war. Joe war zur Stelle gewesen. Und hatte den Schaden wahrscheinlich nur noch vergrößert.
Von Clay hatte Grace sich damals nicht beschützen lassen; sie hatte sich regelrecht dagegen gesperrt, sich ihm nicht anvertraut. Also hatte er hilflos zusehen müssen, wie sie versuchte, sich die Anerkennung und Aufmerksamkeit, Liebe und Unterstützung zu holen, die sie brauchte – und die sie von ihrer Familie nicht mehr haben wollte.
Bis vor Kurzem. Irgendwie war es Grace gelungen, ihre Selbstverachtung zu überwinden. Jetzt war sie glücklich, und Clay wollte alles daransetzen, dass es so blieb. Und wenn er dafür so lange auf der Farm hocken müsste, bis er neben Barkers Überresten verrottet war.
Was ihn an den Anlass seines Anrufs erinnerte.
“Was machst du heute Abend?”, fragte er und klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, um seine Hose zuknöpfen zu können.
“Kirk möchte eine Runde Billard spielen. Warum? Willst du mitkommen?”
Kirk Vantassel war Zimmermann und Madelines langjähriger Freund. Wäre es nach Clay gegangen, hätten die beiden längst verheiratet sein müssen, aber bis jetzt hatten sie sich noch nicht einmal verlobt. In mancher Hinsicht gaben sie sich eher wie Bruder und Schwester als wie zwei Verliebte.
“Ich weiß, dass du Menschenmengen hasst, und das ‘Good Times’ ist freitagabends immer ziemlich voll”, gab sie zu, “aber es würde dir guttun, mal rauszukommen. Du machst das viel zu selten.”
“Wir treffen uns dort.” Er legte den Hörer beiseite, um sich sein T-Shirt überzustreifen. “Besteht die Chance, dass du Allie McCormick überreden kannst, mitzukommen?”, fragte er, als er seine Hände wieder frei hatte.
“Du meinst, mit uns? Du willst, dass ich dich mit Allie zusammenbringe?”
“Nicht, was du denkst”, sagte er schnell. “Ich würde sie bloß gern ein bisschen besser kennenlernen.”
“Verstehe”, meinte sie und zog das Wort vielsagend in die Länge.
“Hör auf.” Clay schlüpfte in ein Hemd und träufelte sich Aftershave auf die Wangen. “Sie ermittelt doch in Dads Fall, stimmt’s?” Reverend Barker hatte von seinen Stiefkindern verlangt, dass sie ihn Dad nannten, und war immer sehr wütend geworden, wenn sie es nicht taten, besonders in Gegenwart von anderen Leuten. Nach seinem Verschwinden hatte Irene darauf bestanden, dass es weiterhin dabei bleiben sollte. “Ich dachte, ich kann mich ein bisschen mit ihr unterhalten. Vielleicht kann ich ihr ja helfen.” Clay hasste es, so daherzureden, und er hasste es, Madeline gegenüber so oft heucheln zu müssen. Aber auch hier warf die Vergangenheit ihre Schatten auf die Gegenwart.
“Wenn man bedenkt, was du von der Polizei hältst, ist das ein sehr großzügiges Angebot. Ich rufe sie an”, bot Maddy an. “Das wollte ich sowieso. Sie hat mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen und nach Dads Bibel gefragt.”
“Wieso? Will sie da reinschauen?”
“Ja.”
Clay fühlte erneutes Unbehagen in sich aufsteigen. Würde Allie hinter den Notizen, die der Reverend auf den
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