Totgeglaubt
Weise, wie sie miteinander umgingen, könnte aufschlussreich für ihre Ermittlungen sein – wahrscheinlich sogar aufschlussreicher als das, was Clay ihr erzählen wollte.
“Wenn er bereit ist, zu reden, darf ich das natürlich nicht verpassen”, sagte sie und verwarf spontan ihre Entscheidung von eben. “Normalerweise ist er ja nicht so auskunftsfreudig.”
“Das ist er bei Polizisten grundsätzlich nicht. Aber das liegt daran, dass sie ihm gegenüber so voreingenommen sind”, verteidigte Madeline ihren Bruder. “Er ist nicht verantwortlich für das, was meinem Vater zugestoßen ist.”
“Das hast du mir schon öfter gesagt. Trotzdem kann ich ihn nicht von der Liste der Verdächtigen streichen, Maddy.” Erst recht nicht, weil Joe Vincelli und andere das genaue Gegenteil behaupteten. “Ich kann niemanden von der Liste streichen. Ich muss in alle Richtungen offen bleiben. Ansonsten würde ich dir keinen Gefallen tun.”
Madeline schien hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu ihrem Bruder und ihrem gesundem Menschenverstand.
“Sag mir eins …”, begann Allie.
“Was?”
“Wenn es Clay war …”
“Er war es
nicht”
, beharrte Madeline. “Hör nicht auf das, was die Leute sagen. Sie kennen ihn nicht so, wie ich ihn kenne.”
“Ich frage nur, ob du es würdest wissen wollen,
wenn
er es war?” Gerechtigkeit stand für Allie über allem. Dieser Fall musste endlich gelöst werden, ungeachtet irgendwelcher Rücksichtnahmen. Aber konnte Madeline ihre Frage wirklich verstehen? Sie sehnte sich so sehr nach einer Antwort. Was, wenn diese Antwort ihr nur neuen Schmerz bereitete?
“Da muss ich mir keine Sorgen machen”, erwiderte Madeline. “Er war es nicht.”
Allie hoffte, dass sie recht hatte. Sie hoffte es für Madeline und auch für Clay. Er war noch so jung gewesen, als all das passierte. “Ich glaube dir”, sagte sie. “Aber trotzdem lasse ich es mir auf keinen Fall entgehen, mit Clay zu sprechen, wenn er dazu bereit ist.”
“Es werden sich sicher noch andere Gelegenheiten ergeben.”
Doch darauf wollte Allie es nicht ankommen lassen. “Nein, ich werde etwas Kaffee tanken und dann mit euch ausgehen. Lasst mich nur noch schnell Whitney ins Bett bringen.”
“Okay. Aber nimm meinen Bruder nicht zu sehr in Beschlag mit dieser Sache. Er kommt nicht oft unter Leute, und ich möchte, dass er einen netten Abend hat.”
“Ich werde mich von meiner besten Seite zeigen”, versprach Allie. Sie konnte sich ohnehin nicht vorstellen, dass man Clay gegen seinen Willen in Beschlag nehmen konnte.
Clay entdeckte Allie in dem Moment, in dem sie die überfüllte Billardhalle betrat. Sie trug einen schwarzen Rock und ein leuchtend pinkfarbenes langärmeliges eng anliegendes Oberteil. Der Rock war erstaunlich kurz für eine Frau, die sich sonst eher zurückhaltend kleidete, und auch Allies Oberteil saß perfekt. Sie war keine weiche sinnliche Frau, dafür aber durchtrainiert und wohlproportioniert. Ihr kurzes Haar, das sie heute sogar mit etwas Gel gestylt hatte, betonte ihre Augen und ihren großen Mund – diesen Mund, den er sogar sexy gefunden hatte, als sie in ihrer langweiligen Uniform gesteckt hatte …
Clay bemerkte, wie sich diverse Männer nach Allie umdrehten, als diese ihn, Madeline und Kirk entdeckte und auf ihren Tisch zusteuerte. Offensichtlich war er nicht der einzige Mann, der von ihrer Verwandlung beeindruckt war.
“Hi”, sagte sie und lächelte Clay offen und herzlich an, während sie sich auf den einzig freien Stuhl setzte, der zufälligerweise der an seiner Seite war.
Er zwang sich, seinen Blick nicht allzu lange auf ihrem Mund verweilen zu lassen. “Hallo”, antwortete er. Dann trank er einen Schluck Bier. Er hatte den leisen Verdacht, dass es eine lange Nacht werden könnte. Ihm war das, was er tat, zuwider. Ebenso seine Beweggründe. Aber das spielte keine Rolle. Er musste alle Möglichkeiten ausschöpfen. Schließlich reduzierte sich doch eh alles immer nur auf Sachzwänge und Notwendigkeiten.
“Du siehst großartig aus!”, sagte Madeline. “Ich hoffe, du hast irgendwo noch Energie getankt?”
“Ich hab ein paar Hallo-wach-Tabletten geschluckt. Das ging schneller, als zwei Liter Kaffee zu trinken.”
Clays Stiefschwester hatte langes, volles kastanienbraunes Haar, ausgeprägte Wangenknochen und große haselnussbraune Augen. Sie war sehr attraktiv, aber Allie brauchte den Vergleich keineswegs zu scheuen. Clay begann sogar schon, ihre Sommersprossen zu
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