Totgeglaubt
vorderen und hinteren leeren Seiten der Bibel gemacht hatte, den irren kranken Mann erahnen, der er gewesen war? Oder würde sie, so wie Madeline, bloß einen besonders frommen Mann in ihm sehen, der seine Familie geliebt hatte, besonders seine älteste Stieftochter?
In Momenten wie diesem war Clay überzeugt davon, dass es richtig war, Madeline vor der Wahrheit zu schützen. Sicher war es hart, sich permanent zu fragen, wohin der eigene Vater verschwunden war. Aber zu erfahren, dass dieser Vater bei Weitem nicht so tickte wie andere Menschen, wäre noch viel schwerer. Allerdings setzte das voraus, dass Maddy die Wahrheit überhaupt akzeptierte, wenn sie sie erfuhr. Andere Menschen würden das nicht tun, so viel stand fest.
“Ich gehe jetzt erst mal was essen”, sagte er.
“Zu Hause oder in der Stadt?”
“Ich bin auf dem Weg ins ‘Two Sisters’. Warum? Leistest du mir Gesellschaft?”
“Lust hätte ich schon, aber ich muss noch einen Artikel fertigschreiben, an dem ich gerade sitze, außerdem ist Kirk noch unterwegs. Wir sehen uns dann später.”
“Woran sitzt du denn gerade?”, wollte Clay wissen. Er hoffte nur, dass der Artikel nicht über ihn war. Einmal hatte Maddy etwas über die Autos geschrieben, die er in seiner Scheune aufpolierte, über den Chevrolet Bel Air von 1957, den er für 52.000 Dollar verkauft hatte, und den zahlungskräftigen Kunden, für den Clay einen 1960er Jaguar XJ6 restaurierte. In einer anderen Ausgabe hatte sie über sein erfolgreiches Farmmanagement geschrieben, so als wäre er der beste Farmer weit und breit. Aber das Schlimmste war, dass sie ihn einmal in ihrer Single-Rubrik aufgeführt und als attraktiv, charmant, geheimnisvoll und unnahbar bezeichnet hatte. Dabei zog er, bei all den hartnäckigen Verdächtigungen und Vorurteilen, schon genug Aufmerksamkeit auf sich. Es reichte, dass er nur einen Raum betrat, und sämtliche Köpfe drehten sich nach ihm um. Zusätzliches Scheinwerferlicht konnte er wahrlich nicht gebrauchen.
Aber da Madeline ihm versicherte, dass Artikel über ihn die Auflage steigerten, beschwerte er sich nicht. Schließlich brachte es ihn nicht um, ihr Geschäft hin und wieder ein wenig zu beleben.
Doch ihre nächsten Worte ließen ihn zusammenzucken.
“Nach dem Vorfall mit Beth Ann plane ich eine Reportage darüber, was Frauen dazu verleitet, die Männer schlechtzumachen, die sie lieben.”
“Wann erscheint das?”
“In ein paar Wochen.”
Clay hoffte, sie würde das Projekt bis dahin aus den Augen verlieren, und griff nach seinem Portemonnaie und den Schlüsseln. “Und was schreibst du jetzt gerade?”
“Eine Serie über Allie.”
“Auch für die Single-Rubrik?”
“Nein, das werden alles Titelgeschichten. Ich schreibe über die Morde, die sie in Chicago aufgeklärt hat.”
“Klingt interessant.”
“Ist es. In einem Fall hat sie den Täter anhand des Etiketts an der Bettwäsche ermittelt, in die das Opfer eingewickelt war.”
“Anhand des Etiketts?”, hakte er nach.
“Ja. Sie konnte nachweisen, dass es keine Bettwäsche war, wie sie üblicherweise in Privathaushalten verwendet wird. Also kontaktierte sie die großen Reinigungsfirmen in der Nähe, die Hotelwäsche reinigen. Die Hotels etikettieren ihre Wäsche nämlich in unterschiedlichen Farben, damit sie entsprechend zugeordnet werden kann.”
“Und wie hat sie das zu dem Mörder geführt?”
“Die Details kannst du ja dann nachlesen. Jedenfalls war sie ziemlich clever. Sie hat den Bettbezug zu einem großen Hotel in der Innenstadt und zu einem der Angestellten zurückverfolgt.”
“Großartig”, sagte Clay. Aber er war sich nicht sicher, ob er den Artikel wirklich lesen wollte. Er war so schon besorgt genug.
“Allie?”
Die Stimme ihres Vaters legte sich über den Disney-Film, den sie sich mit Whitney ansah. Sie griff nach der Fernbedienung und drehte den Ton leiser, damit ihr Vater nicht ganz so laut schreien musste. “Was?”, rief sie zurück.
“Telefon!”
Allie hatte das Klingeln nicht gehört. Sie war eingedöst. Sie hatte das Wochenende frei, was bedeutete, dass sie die Nacht über schlafen konnte. Trotzdem hatte sie Probleme, überhaupt bis zur Schlafenszeit wach zu bleiben. “Ich komme!”
Sie stellte den Ton wieder lauter und ging ins Nebenzimmer, in das Reich ihres Vaters. Sie brauchte eine Weile, um das Telefon zwischen den Stapeln auf dem Schreibtisch zu finden. “Hallo?”
“Allie?”
“Ja?”
“Hier ist Madeline.”
Allie ließ sich
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