Totgeglaubt
er. “Was ist mit deinem Auto passiert? Warum ist die Beifahrerscheibe eingeschlagen?”
Er rüttelte am Türknauf. Mit eisigen Fingern griff die Angst nach ihr, lähmte jeden Muskel – und trotzdem sagte der Instinkt ihr auch jetzt noch, dass sie ihn hereinlassen sollte. Sie hätte es womöglich getan, hätte nicht gleichzeitig in ihrem Kopf die Stimme ihres Vaters gedröhnt: …
und trotzdem, obwohl du wusstest, dass er vielleicht gefährlich ist, bist du in sein Auto gestiegen.
“Allie, antworte doch! Alles in Ordnung mit dir?”
Wenn Clay ihr wehtun wollte, dann hätte er letztes Wochenende reichlich Gelegenheit dazu gehabt.
Ihre Reaktion war nicht logisch, aber das war im Zustand der Angst auch nicht zu erwarten. Die Angst sagte ihr, dass es ein Fehler wäre, ihre Deckung aufzugeben. Dass sie sich geirrt hatte, dass er sie durchaus töten, ihre Leiche im Wald verscharren und nach Stillwater zurückfahren könnte, als hätte er seine Farm niemals verlassen. Und niemand könnte das Gegenteil beweisen. Sie wäre einfach verschwunden. Wie Barker. Genau so, wie es auf dem Zettel stand.
Die Fingernägel ihrer freien Hand krallten sich in ihre Handfläche, als sie hörte, wie Clay zum Fenster ging. Würde er es einschlagen?
Sie wartete mit rasendem Puls und fragte sich, ob sie sich ausgerechnet gegen den Mann würde verteidigen müssen, der sie in ihren Träumen und Gedanken immer mehr beschäftigte.
Aber als sie seine Stimme wieder hörte, hatte er sich bereits von der Hütte entfernt, vermutlich in Richtung des Klohäuschens, von dem sie ihm letztes Mal erzählt hatte und wo er sie vielleicht zu finden hoffte.
“Allie!” Der Wind schickte seine Stimme mal hierhin, mal dorthin. Ihr Name hallte als Echo von den Bäumen wider, mischte sich mit dem Getöse aus Donner, Wind und Regen. Er musste völlig durchnässt sein.
Wenn er mit dieser ganzen nächtlichen Aktion nichts zu tun hatte, was machte er dann hier?
Denk nach!, befahl sie sich.
Denk nach, denk nach, denk nach!
Sie brauchte einen klaren Kopf. Ihre Fantasie war dabei, sich zu überschlagen. Sie glaubte nicht, dass Clay Barker getötet hatte, zumindest nicht vorsätzlich. Und ebenso wenig konnte sie sich vorstellen, dass er ihr jetzt etwas antun wollte. Sie vertraute ihm.
Genug, um ihr Leben aufs Spiel zu setzen, wenn sie jetzt die Tür öffnete?
Sie erinnerte sich an seinen gedemütigten Gesichtsausdruck, als sie ihn aufgefordert hatte, sein T-Shirt auszuziehen, in jener Nacht, als Beth Ann ihn angezeigt hatte. Unter der harten Schale war Clay ein sensibler Mann. Das hatte ihr Gefühl ihr von Anfang an gesagt, und jetzt war ihr Gefühl das Einzige, worauf sie sich verlassen konnte.
Sie holte tief Luft, legte das Messer weg und machte sich daran, das Bücherregal beiseitezuschieben. Doch dann hörte sie einen unterdrückten Fluch gleich neben der Hütte – viel zu nah, um von Clay zu kommen, denn der rief ihren Namen immer noch unten am Fluss.
Trieb sich derjenige, der ihre Waffe geklaut hatte, immer noch hier herum? Und wenn ja, warum?
Vor ihrem inneren Auge sah sie plötzlich wieder Joes wutverzerrtes, rachsüchtiges Gesicht. Die einzige Erklärung, die ihr einfiel, war, dass es sich um eine Art Falle handeln musste. Garantiert hatte Beth Ann nicht nur Joe, sondern gleich der halben Stadt weisgemacht, dass sie, Allie, Clay nicht ins Gefängnis bringen würde, egal wie sehr er es verdiente. Vielleicht hatte Joe daraufhin seinen Glauben an die Justiz verloren und beschlossen, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Joe, sein Vater und sein Bruder waren mehrmals mit Allies Vater zum Angeln hier gewesen. Sie kannten die Hütte also. Möglich also, das Joe Clay unter einem falschen Vorwand an den See gelockt hatte.
Und wenn das zutraf …
Allies Magen verkrampfte sich. Wenn das zutraf, dann hatte sie Clay eben geradewegs in die Falle laufen lassen.
Sie musste ihn warnen. Jetzt sofort! Aber sie hatte über eine Viertelstunde gebraucht, um das Bücherregal vor die Tür zu schieben. Wie sollte sie es innerhalb weniger Sekunden wieder entfernen?
Gepeinigt von den schrecklichsten Bildern – Joe, der mit ihrer Waffe hinter Clay herschlich – riss sie die Hälfte der Bücher aus dem Regal, kickte sie beiseite und stemmte sich gegen die Wand, um mehr Kraft zum Schieben aufzubringen.
“Allie?” Clay rief immer noch nach ihr.
“Stopp! Wirf dich auf den Boden!”, schrie sie panisch und gleichzeitig mutlos, denn sie wusste, dass er sie nicht
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