Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
an, aber nicht kalt.
Blotnik war noch nicht lange tot. Natürlich nicht. Das wusste ich. Ich hatte vor weniger als einer Stunde mit ihm gesprochen.
War der Mörder noch hier?
Ich taumelte ins Büro zurück und griff nach dem Telefon.
Kein Freizeichen.
Mein Blick wanderte an der Schnur entlang. Sie endete knapp zehn Zentimeter unter dem Hörer in einer glatten Schnittkante.
Angst durchzuckte mich wie ein Stromschlag.
Mein Blick huschte über die Tischplatte, blieb an einem Blatt hängen.
Warum an diesem einen?
Es lag genau in der Mitte der Schreibunterlage, präzise ausgerichtet. Trotz des Chaos. Unter dem Chaos.
Vor dem Chaos?
Hatte Blotnik es gelesen? Könnte es mich zu Jake führen?
Tatort! Nichts berühren! , schrie meine linke Hirnhälfte.
Finde Jake! , entgegnete die rechte.
Behutsam zupfte ich das Blatt frei. Es war Getz’ Bericht über das Leichentuch. Adressiert an Jake.
Sollte Blotnik diesen Bericht bekommen? Hatte er ihn aus Getz’ Büro geklaut? Oder wurden solche Berichte routinemäßig an ihn weitergeleitet? Getz arbeitete für das Rockefeller Museum, nicht für die IAA. War das denn nicht der Grund gewesen, warum Jake zu ihr gegangen war, obwohl er sich weigerte, mit Blotnik zu reden?
Aber arbeitete Getz tatsächlich nur für das Museum? Sie hatte angeboten, das Leichentuch für die IAA in Verwahrung zu nehmen. Arbeitete sie für das Rockefeller und die IAA? So genau hatte ich Jake nie danach gefragt.
Steckte Getz irgendwie mit Blotnik unter einer Decke? Hatte es mit den Knochen aus dem Leichentuch zu tun? Aber Jake hatte Getz von den Knochen gar nichts erzählt. Oder doch? Getz’ Name und Nummer standen auf dem Post-it in Jakes Büro. Hatten sie miteinander gesprochen, seit wir das Leichentuch bei ihr gelassen hatten?
Jake hasste Blotnik. Er hätte ihm den Bericht nie gegeben.
Ein schrecklicher Gedanke.
Irgendjemand hatte die Knochen aus dem Leichentuch gestohlen. Da Jake Blotnik verdächtigte, war er in dessen Büro gestürmt, um ihre Herausgabe zu verlangen. Waren die Dinge dann aus dem Ruder gelaufen? Hatte er Blotnik in einem Wutanfall getötet?
Ich überflog den Bericht. Zwei Wörter sprangen mir sofort ins Auge. »Skelettale Überreste.«
Ich las den Absatz. Getz hatte in dem Gewebe mikroskopische Knochenspuren gefunden. Ihr Bericht legte nahe, dass noch größere Überreste existieren könnten.
Blotnik wusste Bescheid!
Ich schaute mich schnell im Büro um. Die Knochen waren nirgends zu sehen. Ich durchsuchte eben den Wandschrank, als ich ein leises Quietschen hörte.
Mir stockte der Atem.
Die Türangel.
Jemand war in Blotniks Büro.
Schritte überquerten den Büroboden. Papier raschelte. Wieder Schritte. Zum Bücherschrank?
Ohne nachzudenken, hastete ich rückwärts wieder auf die Nische zu.
Ein Schuh trat in die Blutpfütze und rutschte seitlich weg. Ich kippte nach vorne.
Der Instinkt übernahm die Kontrolle. Ich ließ die Hände vorschnellen, grapschte nach einem Halt. Meine Finger schlossen sich um eine metallene Längsstrebe.
Das Regal wackelte.
Die Zeit zersplitterte.
Ein Stapel Papierhandtücher schwankte und fiel dann zu Boden.
Rrrmp.
Plötzliche Stille im Büro.
Totale Stille im Wandschrank.
Jäger und Beute nahmen die Witterung auf.
Dann eilige Schritte.
Aus dem Büro hinaus?
Erleichterung.
Dann Angst, wie eine Faust, die meine Brust umklammerte.
Die Schritte bewegten sich in meine Richtung.
Wie gelähmt kauerte ich da und horchte angestrengt.
Dann spuckte mein Hirn eine vergessene Maxime aus.
Überlasse dem Gegner nie das Licht.
Blotniks Besucher konnte mich besser sehen als ich ihn.
Ich packte ein Buch, drehte mich um und zielte auf die Deckenlampe hinter mir. Die Birne zerbrach, Scherben regneten auf Blotniks Leiche herab.
Eine Silhouette füllte den Türrahmen aus, eine prall gefüllte Tasche hing von der linken Schulter, der rechte Arm war angewinkelt, die Hand hielt auf Brusthöhe einen dunklen Gegenstand. Eine Schirmkappe verdunkelte das Gesicht.
Räuspern, dann: »Mi sham?« Wer da?
Es war eine Frauenstimme.
Ich rührte mich nicht.
Die Frau räusperte sich noch einmal und versuchte es dann auf Arabisch.
Im Büro kündigte eine blecherne Stimme die BBC-Nachrichten an.
Die Frau trat einen Schritt zurück. Im grünen Schein der Lampe hinter ihr sah ich, dass sie Stiefel, Jeans und ein Khaki-Hemd trug. Unter den Achseln hatte sie Flecken. Seitlich aus der Kappe lugte eine blonde Strähne hervor.
Die Frau war kräftig und
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