Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
Verschwunden.
Was wollte es mir sagen? Wenn nichts einen Sinn ergibt, wiederhole ich für mich selbst die bekannten Fakten immer und immer wieder, in der Hoffnung, dass irgendein Muster zutage tritt.
Denk nach.
Masada-Skelett. Gestohlen.
Knochen aus dem Leichentuch. Verschwunden.
Jake. Verschwunden.
Courtney Purviance. Verschwunden.
Avram Ferris. Tot.
Sylvain Morissonneau. Tot.
Hershel Kaplan. Für einen Mord angeheuert. Von einer Frau. Vielleicht. Jetzt in Israel. Versuchte er, Knochen zu verkaufen?
Mein Hotelzimmer verwüstet.
Mein Auto verfolgt.
Anrufe zwischen Ferris, Kaplan, Blotnik.
Ruth Anne Bloom. Ich traue ihr nicht. Warum? Jakes frühzeitige Warnung, keinen Kontakt zur IAA aufzunehmen?
Tovya Blotnik? Jake traut ihm nicht.
Knochen aus Höhle 2001, verbunden mit Knochen aus dem Kidron-Grab.
Gab es ein Muster?
Ja. Alles führte zu Max zurück.
Warum dieses quengelige Unterbewusstsein? Gab es da irgendetwas, das nicht hineinpasste?
Falls ja, sah ich es nicht.
Mein Blick wanderte zu einem Schnappschuss über dem Monitor. Ein lächelnder Jake mit einem Steingefäß in der Hand.
Ein Punkt aus meiner Faktenliste sprang mir wieder in den Sinn.
Jake. Verschwunden.
Ich wählte eine weitere Nummer und war überrascht, als eine Stimme sich meldete.
»Bin da.« Gedämpft, wie mit der Hand an der Sprechmuschel.
Ich nannte meinen Namen.
»Die Amerikanerin?« Überrascht.
»Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie so spät noch anrufe, Dr. Blotnik.«
»Ich – ich arbeite oft bis spät in die Nacht.« Verunsichert. Offensichtlich war meine Stimme nicht diejenige, die Blotnik erwartet hatte. »Ist so eine Angewohnheit von mir.«
Ich dachte an meinen ersten Anruf bei der IAA. An diesem Abend hatte Blotnik jedenfalls nicht länger gearbeitet.
Ich hielt mich nicht lange mit Einleitungen auf.
»Haben Sie Jake Drum heute gesehen?«
»Nein.«
»Ruth Anne Bloom?«
»Ruth Anne?«
»Ja.«
»Ruth Anne ist oben in Galiläa.«
Bloom hatte Jake die Nachricht hinterlassen, dass sie länger arbeite. Aber wo? Zu Hause? Im Rockefeller? In irgendeinem anderen Institut? Hatte sie ihre Pläne geändert? Log sie? Log Blotnik? Hatte Blotnik nur etwas missverstanden?
Ich traf eine schnelle Entscheidung.
»Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Heute Nacht?«
»Sofort.«
»Das ist unmöglich. Ich bin …« Blotnik war offensichtlich aus der Fassung gebracht.
»Ich bin in dreißig Minuten bei Ihnen. Warten Sie auf mich.«
Ich wartete Blotniks Antwort nicht ab.
Im Auto dachte ich an Ryan. Ich hätte ihn anrufen und ihm sagen sollen, wohin ich wollte, aber in der Wohnung hatte ich nicht daran gedacht, und ich hatte kein Handy. Vielleicht konnte ich ihn ja von Blotniks Büro aus anrufen.
Es war eine Nacht der offenen Tore.
Ich hätte es als Omen sehen sollen. Stattdessen nahm ich an, dass Blotnik mich erwartete.
Ich fuhr auf das Gelände, stellte mein Auto auf dem Vorhof ab und ging zu Fuß die Auffahrt hoch. Aus dem Nebel wurde allmählich ein feiner Dunst. Die Luft roch nach umgegrabener Erde und Blumen und totem Laub.
Das Rockefeller ragte wie eine riesige schwarze Festung vor mir auf, seine Ränder verschmolzen mit der samtigen Nacht. Als ich um eine Ecke ging, schaute ich noch einmal durch das Tor, durch das ich eben hereingefahren war.
Auf der anderen Straßenseite lag die schlummernde Altstadt, ein Ort der Dunkelheit und der stillen Steine. Verschwunden waren die Laufburschen und die Hausfrauen und die Schulmädchen und die Flaneure, die sich tagsüber auf den schmalen Straßen drängten. In diesem Augenblick bog ein Auto von der Sultan Suleiman auf die Derech Jericho ein, und die weißen Lichtkegel seiner Scheinwerfer wanderten durch den Dunst.
Ich ging zur Seitentür, ein Eingang, der nur vom Museumspersonal benutzt wurde. Sie war unverschlossen, wie das Tor. Ich drückte sie mit der Schulter auf und trat ein.
Eine uralte Deckenlampe tauchte die kleine Vorhalle in Ocker. Ein kurzer Gang vor mir endete an der Doppeltür, die in die Ausstellungsräume führte. Rechts wand sich eine eiserne Wendeltreppe nach oben, offensichtlich ein Hintereingang zu der Büroflucht, die Jake und ich vom Inneren des Museums her betreten hatten.
Auf einer hölzernen Ablage neben der Doppeltür, die in den Ausstellungsbereich führte, entdeckte ich ein Telefon.
Ich ging zu dem Apparat und nahm den Hörer ab. Das Freizeichen klang in dem nächtlich leeren Gebäude wie ein Waldhorn.
Ich wählte Ryans Nummer. Keine
Weitere Kostenlose Bücher