Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
Ausschuss denn nichts von der Existenz dieser anderen Inschriften?«
»Sag du es mir.«
Jakes Blick wanderte immer wieder zum Verkehr um uns herum.
»Und zufälligerweise gehörte dem Ausschuss kein einziger neutestamentarischer Experte oder Historiker des frühen Christentums an.«
»Was ist mit der Sauerstoffisotopen-Analyse?«
Jake schaute kurz zu mir herüber. »Du hast deine Hausaufgaben gemacht.«
»Nur ein wenig im Web gesurft.«
»Die Sauerstoffisotopen-Analyse wurde vom Material-Unterausschuss in Auftrag gegeben. Sie wies keine Patina in den Tiefen der Buchstaben nach, förderte jedoch eine graue Kalk- und Wasserpaste zu Tage, die dort nicht hätte sein sollen. Der Ausschuss kam zu dem Schluss, dass dieses Gemisch mit Absicht aufgebracht worden sei, um einen Verwitterungsprozess zu imitieren. Aber so einfach ist das nicht.«
Jake stellte Rück- und Seitenspiegel neu ein.
»Es zeigte sich, dass die Patina im ›Jesus‹-Teil der Inschrift dieselbe ist wie die Patina auf dem gesamten Kasten. Im alten Aramäisch wäre ›Jesus‹ das letzte Wort gewesen, das eingemeißelt wurde. Und wenn dieses Wort authentisch ist, und inzwischen gestehen sogar einige Mitglieder der IAA ein, dass es das ist, dann muss meiner Meinung nach die ganze Inschrift echt sein. Überleg mal. Warum sollte man ein Ossuar nur mit dem Worten ›Bruder von irgendjemand‹ beschriften? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Wie erklärst du diese Paste?«
»Schrubben hätte die Patina tief drinnen in den Buchstaben entfernen können. Und es hätte die chemische Zusammensetzung der Patina verändern können, indem es Karbonatpartikel erzeugte. Der Besitzer des Ossuars behauptete, es sei im Verlauf der Jahre wiederholt gereinigt worden.«
»Wer ist der Besitzer?«
»Ein israelischer Antiquitätensammler namens Oded Golan. Golan behauptet, man habe ihm beim Kauf gesagt, das Ossuar stamme aus einem Grab in Silwan.« Jake deutete mit dem Daumen zu meinem Fenster. »Wir sind jetzt in den Außenbezirken von Silwan.«
Wieder musterte Jake die Autos vor und hinter uns. Seine Nervosität machte auch mich unruhig.
»Da gibt’s nur ein Problem. Das Ossuar ist nicht dokumentiert als archäologisch geborgenes Artefakt aus Silwan oder von sonst wo in Israel.«
»Du glaubst, es stammt aus einer Raubgrabung?«
»Nicht doch. Was du schon wieder denkst.« Jakes Stimme triefte vor Sarkasmus. »Golan behauptet, das Ossuar sei seit mehr als dreißig Jahren in seinem Besitz, wodurch es völlig legal wird, da Altertümer, die vor 1978 erworben wurden, so was wie Freiwild sind.«
»Du glaubst ihm nicht?«
»Angeblich hat Golan einen Preis von zwei Millionen Dollar für das Ding angesetzt.« Jake schnaubte. »Was denkst denn du?«
Ich dachte, das ist eine Menge Geld.
Jake deutete durch die Windschutzscheibe auf einen Hügel, der steil vom Straßenrand in die Höhe ragte.
»Der Ölberg. Wir sind um die Ostseite herumgekommen und fahren jetzt an der Südflanke entlang.«
Jake bog nach links in eine schmale Straße mit niedrigen, sandfarbenen Gebäuden ein, von denen viele mit grob gezeichneten Flugzeugen oder Autos verziert waren, ein Hinweis darauf, dass die Bewohner den hajj nach Mekka absolviert hatten. Jungs liefen hinter Bällen her. Frauen schüttelten Teppiche aus, trugen Einkäufe nach Hause, fegten Türschwellen. Männer unterhielten sich auf verrosteten Gartenstühlen.
Mir fielen die Palästinenser wieder ein, die vor l’Abbaye Sainte-Marie-des-Neiges geparkt hatten. Ich erzählte Jake von ihnen und berichtete ihm auch einiges von dem, was Morissonneau gesagt hatte.
Jake öffnete den Mund, überlegte und schloss ihn wieder.
»Was ist?«, fragte ich.
»Nicht möglich.«
»Was ist nicht möglich.«
»Nichts.«
»Was willst du mir eigentlich nicht verraten?«
Als Antwort bekam ich nur ein Kopfschütteln.
Die frühmorgendliche düstere Vorahnung überkam mich wieder.
Jake bog noch einmal ab und fuhr auf eine Lichtung hinter dem Dorf. Vor uns und links von uns führten Steintreppen zu etwas hinunter, das eine Schule zu sein schien. Jungs saßen oder standen oder rangelten und schubsten sich auf den Stufen.
»Hat Morissonneaus Tod irgendwas zu tun mit …« Womit? Ich hatte keine Ahnung, was wir eigentlich taten. »Mit diesen Männern.« Ich umfasste mit einer Handbewegung die Sporttasche, das Dorf und das Tal unter uns. »Mit dem hier?«
»Vergiss die Moslems. Den Moslems ist Masada oder Jesus ziemlich egal. Der Islam betrachtet Jesus
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